Getarnte Geopolitik

Im Juli 2025 wurde die Provinz Suwaida Zeuge eines der brutalsten Massaker in Syriens jüngerer Geschichte. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden 1.448 Menschen getötet, darunter 258 Hinrichtungen durch bewaffnete Männer, die dem Verteidigungs- und dem Innenministerium angehören.
Die meisten Opfer waren Zivilpersonen und Drusen. Ganze Familien wurden ausgelöscht. Nationale Symbole – darunter Bilder des drusischen Helden Sultan Pascha al-Atrasch – wurden zerstört, Kinder beim Versuch zu fliehen erschossen, Dörfer und Wohngebiete beschossen, geplündert und niedergebrannt.
Zum Ausbruch dieser jüngsten Phase der Gewalt kam es am 12. Juli, als ein drusischer Händler an einem Kontrollpunkt zwischen Damaskus und Suwaida, den eine nichtstaatliche bewaffnete Gruppe von Angehörigen der südlichen Beduinenstämme bemannte, angegriffen und ausgeraubt wurde.
Als Vergeltung entführte eine örtliche drusische Gruppierung ein Mitglied des Stammes, was einen Kreislauf von Entführungen und Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen auslöste.
Die syrische Regierung nutzte die Gelegenheit und griff ein – jedoch nicht, um die Spannungen zu entschärfen, wie sie behauptete, sondern um ihre Kontrolle über die Provinz wieder geltend zu machen. Statt als neutrale Kraft zu agieren, verbündeten sich die Regierungstruppen mit der Beduinenfraktion und starteten eine brutale Kampagne gegen die drusischen Gemeinden. Zivilisten wurden massakriert, Wohnstätten geplündert und Häuser und Olivenhaine willentlich in Brand gesetzt.
Baschar, ein Überlebender und Journalist aus der Stadt Suwaida, berichtete: „Das Militär hat die Häuser meiner Eltern im Dorf vor ihren Augen niedergebrannt. Mit Raketenwerfern wurden ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, um den Weg für vorrückende Truppen frei zu geben.“
„Das hier ist kein lokaler Konflikt“, sagte Nadeem, ein Fotograf und Überlebender aus dem Dorf Al-Dour. „Es begann mit inszenierten Zusammenstößen, die durch vom Regime kontrollierte Medien verstärkt wurden. Als dann die Ältesten beider Seiten über Frieden verhandelten, entsandte das Verteidigungsministerium Truppen. Sie deeskalierten aber nicht; sie entfachten die Gewalt neu.“
Als Truppen des Verteidigungsministeriums am 15. Juli in Al-Dour eindrangen, eröffneten Scharfschützen das Feuer auf Zivilisten. Mörsergranaten regneten auf Feldwege nieder.
„Wer nicht fliehen konnte, wurde abgeschlachtet – viele durch Enthauptung“, berichtete Nadeem. „Ich habe mein Zuhause verloren, die meisten meiner Verwandten und das gesamte Fotoarchiv der syrischen Revolution, das ich 14 Jahre lang aufgebaut hatte.“
Sektarismus ist ein politisches Projekt
Das Suwaida-Massaker ist kein Einzelfall, sondern Teil einer umfassenderen staatlichen Politik, um Macht zu konsolidieren und abweichende Meinungen zu unterdrücken.
Schon im März hatte es bei sektiererischen Massakern in Syriens Küstenregionen über 1.500 Tote gegeben. Einen Monat später kam es zu Gewaltausbrüchen in von Drusen bewohnten Vororten von Damaskus, darunter Jaramana und Sahnaya, nachdem ein gefälschter Audio-Clip verbreitet worden war, in dem ein drusischer Scheich den Propheten beleidigte.
Auch damals nutzte der Staat die Unruhen als Vorwand, um seine Kontrolle geltend zu machen, wobei Dutzende ums Leben kamen und Hunderte vertrieben wurden. Wiederholt hat er sektiererische Konflikte geschürt.
Nach dem Sprengstoffanschlag in einer Kirche in Damaskus im Juni merkte die syrische Journalistin Manahel Alsahoui an, dass die Regierung es sogar ablehnte, „die Opfer als Märtyrer zu bezeichnen“ und somit „Nicht-Muslime als Bürger zweiter Klasse behandelte“.

„Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie“
Überlebende der Anfang März in syrischen Küstenstädten entfesselten Gewalt erzählen Qantara ihre Geschichte. Warnung: Die Berichte enthalten Details über die wahllosen Tötung von alawitischen Zivilist:innen und können verstörend sein.
Unterdessen hat Syriens neuer Staatschef Ahmed al-Scharaa die Macht in einem noch nie dagewesenen Ausmaß auf sich konzentriert. Er ist Präsident, quasi Premierminister, Leiter des „Sovereign Fund“ und des Entwicklungsfonds. Es gibt kein funktionierendes Parlament und keinen Strategieplan für Gerechtigkeit. Nur militarisierte Gewalt, wirtschaftlichen Zusammenbruch und Unterdrückung abweichender Meinungen.
Hai'at Tahrir al-Scham (HTS) agiert weiterhin eher als Miliz denn als einheitliche nationale Streitkraft, während die Kontrolle über das Militär zunehmend an die Assad-Ära erinnert. Schlüsselpositionen werden von Scharaa-Loyalisten besetzt.
Es ist wichtig zu betonen, dass Sektarismus in Syrien nicht auf uralte, tief verwurzelte Identitäten zurückgeht; Sektarismus ist ein politisches Projekt. Diese Spaltungen wurden während der Kolonialherrschaft institutionalisiert und während des Krieges, der auf den Aufstand in Syrien 2011 folgte, als Waffe eingesetzt.
Begriffe wie „drusische Miliz“ oder „Beduinenstamm“, die von staatlichen Medien häufig verwendet werden, sind Produkte von umfassenden Machtkämpfen in der Region, von Gewalt und Umstrukturierungen zu Kriegszeiten.
Darüber hinaus nutzt Israels Siedlerkolonialismus seit langem sektiererische Identitäten aus – insbesondere unter den Drusen, die oft als eine monolithische Gemeinschaft dargestellt werden. Israel spielt dabei ein wohlbekanntes doppeltes Spiel, indem es sich als Beschützer der Drusen präsentiert und gleichzeitig versucht, die besetzten Golanhöhen als offizielles israelisches Territorium umzudeuten. Die Spannung zwischen den Drusen und Al-Scharaas Regierung bietet Israel eine Gelegenheit, auf „komfortablere“ Grenzen auf syrischem Boden zu drängen.
Während die Drusen innerhalb Syriens heute in Angst leben, weil sie Ziel einer Welle von Hass und Gewalt geworden sind, fühlen sich staatenlose syrische Drusen in den von Israel besetzten Golanhöhen aus der einzigen Heimat ausradiert, die sie jemals hatten.
Sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes fühlen sich viele Drusen in einem gefährlichen Kreuzfeuer gefangen – benutzt als Schachfiguren in Israels geopolitischen Plänen auf der einen Seite und in den islamistischen Ambitionen von HTS auf der anderen Seite.
Dies macht die tödlichen Massaker in Suwaida noch brutaler. Von Sultan Al-Atrasch bis Kamal Kanj hatten sich die syrischen Drusen gegen jede Teilung gewehrt und darauf bestanden, dass „die Religion Gott gehört und die Heimat allen“.
Falsch gedeutete Signale?
Seit seiner Machtübernahme im Dezember 2024 steht Al-Scharaa vor ernsten Herausforderungen bei der Durchsetzung der Kontrolle über verschiedene Teile Syriens, darunter den Süden des Landes. Die größte Herausforderung ist das dortige tief verwurzelte Misstrauen gegenüber der Führung in Damaskus. Denn offizielle Reden, in denen Inklusivität und nationale Teilhabe versprochen werden, stehen in deutlichem Widerspruch zu dem im Süden beobachteten autoritären Auftreten der Regierung.
Gleichzeitig verfolgt Al-Scharaa eine Politik der Deeskalation gegenüber Israel. So stimmte er der Aufnahme von Friedensgesprächen zu, trotz Israels fortgesetztem Völkermord im Gazastreifen und trotz anhaltender Angriffe auf syrische Gebiete.
Israel hat nicht nur einen Großteil der verbliebenen syrischen Streitkräfte zerstört, sondern auch zehn militärische Kontrollpunkte auf syrischem Boden eingerichtet und Bodentruppen stationiert – und damit gegen das Völkerrecht verstoßen, ohne Protest seitens der syrischen Regierung.
Währenddessen herrscht international Schweigen. Mit Duldung westlicher Länder gehen die israelischen Luftangriffe auf syrische Militärstellungen weiter, was häufig zu zivilen Opfern führt – wie bei den jüngsten Angriffen auf das Verteidigungsministerium und den Präsidentenpalast im Juli.
Berichten zufolge war die Kontrolle der syrischen Regierung über Südsyrien erst eine Woche zuvor Thema gewesen bei den syrisch-israelischen Verhandlungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Aserbaidschan. Beamte in Damaskus haben eingeräumt, dass sie möglicherweise Signale aus den USA und Israel missinterpretiert haben als stillschweigende Ermutigung, die Kontrolle über das gesamte Land zu übernehmen.
Israels Forderung nicht nur nach „Schutz“ der Drusen, sondern – im Dezember 2024 – nach einer entmilitarisierten Zone in Südsyrien hatte Al-Scharaa offenbar zögern lassen, in der Region ohne Abstimmung mit Israel zu handeln. Im Ergebnis stützt sich das Regime in Damaskus nun auf ausländische Bündnisse, um die Unterdrückung im eigenen Land zu rechtfertigen.
Möglicherweise lässt sich das gezielte Nutzen von Sektarismus, der sowohl von der israelischen als auch der syrischen Regierung taktisch angewandt wird, als Ergebnis einer Interessenkonvergenz verstehen. Beide Seiten können auf diese Weise ihre Macht durch Gewalt festigen – auf Kosten von zivilen Menschenleben und der zerstörten syrischen Gesellschaft.
Sollte diese Taktik weitergehen, bleibt die Frage: Wer ist als nächstes an der Reihe?
Dieser Text ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung: Annalena Heber
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