Tauschhandel und Kaffeeersatz

Im Vordergrund ein Esel, dahinter eine Menschenansammlung
Die Verteilung von Nahrungsmittelhilfe in Gaza findet derzeit in nur vier Zentren statt. Betrieben werden sie durch die Gaza Humanitarian Foundation. (Foto: Picture Alliance/Middle East Images | S. Jaras)

In Gaza bedroht der Hunger Menschenleben. Während einige Palästinenser:innen versuchen, Hilfe von der Gaza Humanitarian Foundation zu erhalten, greifen andere zu immer verzweifelteren Maßnahmen. Ein Bericht aus Gaza.

Von Doaa Shaheen

Während die Sonne über dem Flüchtlingslager Nuseirat im Zentrum von Gaza unterging, kehrte Hanaa Suleiman, eine Palästinenserin in ihren Fünfzigern, erschöpft nach Hause zurück. Den ganzen Tag war sie auf der Suche nach Mehl gewesen, mitbringen konnte sie nur ein Kilogramm – kaum genug für acht hungrige Kinder: fünf Jungen und drei Mädchen warten ungeduldig auf ein Stück Brot, um ihre Bauchschmerzen zu lindern. 

Schon lange sind sie daran gewöhnen, mit einer halben Mahlzeit am Tag zu überleben. „Ich habe den Teig aufgeteilt, als wäre er Gold“, sagt Hanaa, bekannt als Umm Bashir, während sie das Mehl mit Nudelresten vermischt, die sie zermahlt, um die Teigmenge zu vergrößern. „Jeder bekommt ein kleines Brot, die Woche unterteilen wir in Brot-Tage und Nudel- oder Reis-Tage.“

Hanaas Familie ist eine von Tausenden, die seit dem 2. März, als sämtliche Hilfslieferungen eingestellt wurden, hungern und mit nur noch einer Mahlzeit am Tag überleben. Fast drei Monate lang blockierte das israelische Militär jegliche Nahrungsmittelhilfe im Gazastreifen. 

Erst am 27. Mai – unter internationalem Druck – kamen wieder Hilfslieferungen an. Verteilt werden sie über ein neues System der Gaza Humanitarian Foundation, einer von Israel und den USA unterstützten Organisation.

Eine Frau knetet einen Teig aus Mehl und Nudeln.
Hanaa mischt Mehl mit Nudeln, um Brot für ihre Kinder zu backen, Nuseirat, 19. Juni 2025. (Foto: Qantara | Doaa Shaheen)

Hilfe wird zur Todesfalle

„Ich hätte nie gedacht, dass Brot zu einem Luxus werden würde; dass ein Laib so viel Planung und Geschick erfordern würde“, sagt Hanaa verbittert. Vier Verteilungszentren wurden eingerichtet, drei im südlichen Gazastreifen und einer im Zentrum. 

Was zunächst als „Hoffnungsschimmer“ galt, entwickelte sich schnell zu „Todesfallen“, wie die Bewohner:innen des Gazastreifens sie beschreiben. Die willkürliche Verteilung an diesen Ausgabestellen hat sie zu Schauplätzen des Chaos und der ständigen Gefahr gemacht.

UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini bezeichnete das neue System als „einen verabscheuungswürdigen Vorgang, der verzweifelte Menschen erniedrigt“ und als „eine Todesfalle, die mehr Leben fordert als sie rettet“. Israel hingegen behauptet, das System sei eingeführt worden, um zu verhindern, dass die Hamas humanitäre Hilfe stiehlt.  

Die Schilderung des Leids des 30-jährigen Wael al-Abdallah spiegelt die harte Realität wider. Am 6. Juni verließ er nach Tagen des Zögerns im Morgengrauen seine Wohnung, um nach einer Packung Milch für sein noch nicht fünf Monate altes Baby zu suchen. Er verabschiedete sich von seiner Frau, als ziehe er in eine Schlacht, aus der er möglicherweise nicht zurückkehren würde. Dann machte er sich auf den Weg zur US-Ausgabestelle im Sultan-Viertel im Süden des Gazastreifens. 

Nach vier Stunden Fußmarsch traf er dort ein und fand sich zwischen Tausenden hungrigen Menschen wieder, die hinter Stacheldraht zusammengedrängt waren – ein medial inzwischen vertrautes Bild des Chaos. 

Doch dass die Situation in einen solchen Horror umschlagen würde, hatte er nicht erwartet. Ohne Vorwarnung eröffnete ein israelischer Soldat das Feuer auf die Menge. Dutzende stürzten zu Boden, Panik machte sich breit, und die Menschen stoben in alle Richtungen auseinander, erinnerte sich al-Abdallah.

„Ich befand mich mitten im Chaos“, beschreibt Wael. „Ich fiel zu Boden und stand wieder auf, bedeckt mit Staub und niedergedrückt von der Bitterkeit des Überlebens. Es fühlte sich an, als wäre jetzt alles vorbei; keine Milch, keine Hilfe, nur Leere.“

Wael kehrte mit leeren Händen nach Hause zurück. Das Weinen seines Babys war eine schmerzhafte Erinnerung an den Misserfolg des Tages. Um den Hunger zu stillen, schlug seine Frau vor, Linsensuppe als Milchersatz zu kochen. „Mein Baby hatte Mühe, die Suppe zu essen“, sagte Wael, „und es brach mir das Herz. Aber schließlich beruhigte er sich etwas.“

Eine Mahlzeit am Tag

Der 45-jährige Ibrahim al-Sulaiki, der aus dem Dschabalia-Camp im Norden Gazas in ein Lager in der Nähe des Hafens von Gaza im Westen des Gazastreifens vertrieben wurde, konnte sich seine Lebensmittelration nicht erkämpfen. Das eine Mal, dass er es zu einer der Ausgabestellen schaffte, machte es das überwältigende Chaos unmöglich. 

Blick von oben auf eine Frau, die zu Hause Brot backt.
„Ich hätte nie gedacht, dass Brot zu einem Luxus werden würde; dass ein Laib so viel Planung und Geschick erfordern würde“, sagt Hanaa im Lager Nuseirat, 19. Juni 2025. (Foto: Qantara | Doaa Shaheen)

Ibrahim hat vier Kinder, das Älteste ist acht Jahre alt. Er erklärt, dass sie am Tag eine Mahlzeit zu sich nehmen. An manchen Tagen gibt es Mujadara aus Reis, Linsen und Nudeln, an anderen Tagen eine Mischung aus Bohnen und Favabohnen.

Er berichtet, dass ein Kilogramm Zucker auf dem Markt bis zu 300 Schekel (80 Dollar) kostet und die Knappheit in der Familie für Spannungen sorgt. „Meine Kinder wollen Tee mit Zucker, aber wir haben nicht genug. Wir wechseln also – ein Tag mit Zucker, ein Tag ohne.“ Als Alternative zu Kaffee hat er schon Dattelkerne geröstet und gemahlen, die er mit Kardamom kocht und „hausgemachten“ Kaffee nennt.

Tauschen statt kaufen

Angesichts des Mangels an Geld und Hilfsgütern sind die Palästinenser:innen im Gazastreifen auf den Tauschhandel umgestiegen. Junge Menschen haben WhatsApp-Gruppen unter dem Namen Badalni gegründet, in denen Mitglieder posten, was sie haben und was sie brauchen. Ein Versuch, Solidaritätsnetzwerke wiederzubeleben.

Abdullah Matar, 40, Vater von vier Kindern, tauschte drei Kilogramm Linsen gegen ein Kilogramm Zucker und ein halbes Kilogramm Mehl gegen Speiseöl. „Wir haben kein Geld in der Tasche und in den Hilfszentren ist es nicht sicher. Wir überleben, indem wir mit unseren Nachbarn Waren tauschen“, sagt er. Und fügt hinzu: „Wir wollen leben und unsere Kinder ernähren. Der Hunger macht keinen Unterschied mehr zwischen Jung und Alt.“  

Nahaufnahme der Hände eines Mädchens, das ein Stück Brot hält
Hanaa Suleimans Tochter isst ihren Anteil Brot, Lager Nuseirat, 19. Juni 2025. (Foto: Qantara | Doaa Shaheen)

Der palästinensische Wirtschaftsanalyst Ahmed Abu Qamar geht davon aus, dass derzeit mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, steigender Preise und Geldmangels in fortgeschrittenem Stadium des Hungers leben. 

Vor dem Krieg, erklärt er, lag der Mindestbedarf an Nahrungsmitteln in Gaza täglich über 800 Lastwagen, schon damals wurden nur etwa 400 geliefert. Seit Ausbruch des Krieges im Oktober 2023 sei diese Zahl laut Abu Qamar auf durchschnittlich nur noch 14 Lastwagen pro Tag gesunken. Abu Qamar fordert die Wiederaufnahme der Verteilung von Hilfsgütern durch die Vereinten Nationen und ihre Partnerorganisationen sowie ein digitales Verteilungssystem, das für Gerechtigkeit sorgt – ohne Szenen der Demütigung und des unnötigen Todes.

Während Matar auf einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme der Hilfsmaßnahmen wartet, setzt Wael al-Abdallah sein tägliches Abenteuer fort: Er sucht Hilfsverteilungszentren auf, um Milch für sein Kind aufzutreiben. Er weiß, dass er vielleicht nicht zurückkehren wird, aber er will eine Botschaft hinterlassen: „Wenn ich nicht zurückkomme, soll mein Kind wissen, dass sein Vater es versucht hat.“ 

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