Der Arabische Frühling braucht Zeit
Inzwischen wird hierzulande gar ein "arabischer Winter" heraufbeschworen, und zwar durchaus auch in intellektuelleren Printmedien. "In Ägypten hat Demokratie keine Chance", kann man lesen oder: "Das Experiment ist vermutlich für längere Zeit gescheitert".
Dabei ist man in Syrien und Ägypten, in Tunesien und Libyen gerade mitten in der Arbeit, es wird gekämpft und gestorben, aber auch verhandelt. Nichts ist entschieden, in keinem der Revolutionsländer. Aber aus europäischen Mündern tönt es hämisch: "Ihr werdet es ja doch nicht schaffen." Warum geben wir ihnen keine Zeit?
Jetzt kommen noch mehr Flüchtlinge, so lautet die Befürchtung. Natürlich kommen jetzt noch mehr Flüchtlinge. Aber weniger werden es nur, wenn sie in ihren Heimatländern Bedingungen vorfinden, die das Leben lebenswert machen. Mittelfristig hilft da nur Partizipation der gesamten Bevölkerung an Entscheidungsprozessen und am Volksvermögen.
Vom Versagen aller politisch Handelnden ist die Rede. Natürlich haben alle versagt – weltweit. Aber von intellektuellen Seiten könnte man zumindest moralische Unterstützung und Zuspruch für das große Projekt arabische Demokratie erwarten, und nicht bloß schadenfrohes Grinsen bei Rückschlägen, die ohnedies zu erwarten waren.
Demokratie als ewiger Prozess
Jetzt wird die Anti-Intellektualität der ägyptischen Muslimbrüder beschworen. Aber was sind ein paar Schwachköpfe gegenüber 1.400 Jahren arabisch-islamischer Geistesgeschichte? Man gab ihnen keine Chance, aus Fehlern zu lernen. Und dass die politische Riege der Bruderschaft beim Regieren furios dilettiert hat, bedeutet nicht, dass Demokratie in arabischen oder muslimischen Ländern immer scheitern muss, bedeutet keineswegs, dass der Islam grundsätzlich demokratieunfähig ist.
Aber es wird noch der Anstrengung bedürfen, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Demokratie nicht ein Ereignis ist, das einmal eintrifft, sondern ein ewiger Prozess, an dem man täglich schuften muss, ein fortwährendes Verhandeln um Kompromisse.
Als Geburtshelfer der europäischen Demokratie gilt gewöhnlich die Französische Revolution ab 1789 mit der Aufklärung als Wegbereiter und Wurzeln in der Antike. Aber wie lange mussten die Bevölkerungen westlicher Länder auf das allgemeine Mitbestimmungsrecht in politischen Prozessen warten? Da folgte auf Revolution Konterrevolution und Restauration, Rückschläge ohne Zahl und zwei Weltkriege samt Massenvernichtungslagern und Genoziden.
Wiederholt brannten in den letzten Monaten am Nil die Kirchen und Infrastruktur wurde gestürmt, niedergerissen, verwüstet. Schnell hat man in Europa die Verursacher ausgemacht. Einer diffusen Gruppe, hierzulande "Islamisten" genannt, werden die Schändungen und Untaten in die Schuhe geschoben. Die Religiösen waren es, da kommt kein Zweifel auf, da gilt keine Unschuldsvermutung.
Teile und herrsche!
In Kairo hingegen gibt es auch andere Thesen, dort wollen die Gerüchte nicht verstummen, dass nicht (nur) religiös motivierte Extremisten, sondern von der Regierung angeheuerte Schlägertrupps die Gewalt säen. Es ist seit Mubarak Tradition, gewisse sensible Arbeiten auszulagern, für die man starke Typen in Sold stellt. Diese Männer fürs Grobe besitzen eine besondere Expertise in sexualisierter Gewalt.
In den letzten Jahren wurden solche kriminellen Banden (ägpt: Baltagiya) immer dann gesichtet, wenn viele Menschenleben zu beklagen waren, am Tahrir-Platz und im Stadion in Port Said 2011, bei der Erstürmung der Protestlager Mitte August, am darauffolgenden "Freitag des Zorns".
Es wird zu klären sein, ob nicht ein Großteil der Zerstörungen von Kirchen und Amtsgebäuden und der Gewalt gegen Kopten diesen bezahlten Randalierern – und somit ihren Auftraggebern – zuzuschreiben ist. Deren Absichten sind leicht durchschaubar, die Methode – Divide et impera – seit der Antike erprobt: Teile und herrsche! Man treibe Keile zwischen einzelne Bevölkerungsgruppen und spiele sie gegeneinander aus.
Solche Szenarien kennt man allzu viele aus den Geschichtsbüchern. Es ist tragisch, dass Menschen anscheinend immer erst dann Verhandeln als Strategie der Konfliktlösung akzeptieren, wenn Schießen zu keinem tragfähigen Ergebnis geführt hat. Man möchte die Hoffnung hegen, dass sich die Ereignisse nicht bis in alle Unendlichkeit mit viel Blutvergießen wiederholen müssen.
Ringen um Volkssouveränität
Doch derzeit sieht es danach aus, als ob Ägypten eine Variante jener Phase erlebe, in der die Revolution ihre Kinder frisst. Wo sind eigentlich die Tausenden geblieben, die Anfang 2011 den Tahrir-Platz füllten? Irgendwie sind die Leute, auf deren Schultern so viele Hoffnungen ruhten, die man als die Liberalen zu benennen pflegte, von der Bildfläche, aus den Straßen Kairos und aus den Medien verschwunden, teils übergelaufen, teils abgetaucht ins Privatleben.
Aber über kurz oder lang werden sie sich aus der Anonymität und aus der Unzufriedenheit wieder erheben und nach Brot und Mitbestimmung rufen, und das bedeutet Volkssouveränität, denn nur diese gewährleistet politische und ökonomische Teilhabe aller.
Stabile Demokratien sind in vielen westlichen Ländern erst nach 1945 entstanden. Eineinhalb Jahrhunderte also hat es gedauert seit der Französischen Revolution, und noch immer ist tägliche Anstrengung vonnöten. Noch immer bedrohen Populismus, Partikularinteressen und rechtsextreme Randgruppen die Errungenschaften von Mitbestimmung, Sozialstaat und Menschenrechten.
Natürlich mögen die Entwicklungen in Nordafrika und dem Nahen Osten zeitlich und strukturell gänzlich anders verlaufen als die bisher bekannten Demokratisierungsprozesse. Aber das arabische Ringen um Volkssouveränität ist keine drei Jahre alt. Es war am 17. Dezember 2010, als der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit seiner Selbstverbrennung den Funken entfachte, der die arabischen Revolutionen entzündete. Bouazizi ist sofort länderübergreifend zum Helden geworden, sein Name heute jedem arabischen Schulkind ein Begriff.
Der Arabische Frühling braucht Zeit.
Ingrid Thurner
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Ingrid Thurner ist Ethnologin, Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und Mitglied der Initiative Teilnehmende Medienbeobachtung (www.univie.ac.at/tmb).