Freiheitskampf im Mullah-Staat 

Der Aufstand in Iran wird maßgeblich von Frauen getragen: Vier Autorinnen bieten Innenansichten und bewegende Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven.
Der Aufstand in Iran wird maßgeblich von Frauen getragen: Vier Autorinnen bieten Innenansichten und bewegende Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven.

Der Aufstand in Iran wird maßgeblich von Frauen getragen: Vier Autorinnen bieten Innenansichten und bewegende Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven. Rezensionen von René Wildangel für Qantara.de 

Von René Wildangel

Gleich drei Bücher sind jüngst erschienen anlässlich der massiven Proteste in Iran nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini. Dass es sich um einen revolutionären Prozess handelt, dass es kein Zurück mehr gibt, darin sind sich die Autorinnen einig.



Sie bieten Innenansichten Irans aus unterschiedlichen Perspektiven: Katajun Amirpur beleuchtet die jüngere Vorgeschichte, Gilda Sahebi den feministischen Kern des Aufstands, und Natalie Amiri und Düzen Tekkal versammeln bekannte und einige weniger bekannte Iranerinnen, deren Geschichten sie aufzeichnen. Auch wenn es einige Überschneidungen gibt: Lesenswert sind alle Bücher. 

In Katajun Amirpur Buch "Iran ohne Islam - der Aufstand gegen den Gottesstaat" geht es im Kern gar nicht um die jüngste Protestwelle, sondern um die Wurzeln der Unzufriedenheit mit der Islamischen Republik.

Amirpur stellt fest, was zumindest jene überraschen dürfte, die Iran nicht aus eigener Anschauung kennen: Der Mullah-Staat ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einer post-islamischen Gesellschaft geworden. Mit dem Begriff bezieht sich Amirpur auf den persischstämmigen Gelehrten Asef Bayat.

Katajun Amirpur: Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat. Verlag C.H. Beck, München 2023; (Foto: C.H.Beck)
In Katajun Amirpurs Buch geht es im Kern gar nicht um die jüngste Protestwelle, sondern um die Wurzeln der Unzufriedenheit mit der Islamischen Republik. Amirpur stellt fest, was zumindest jene überraschen dürfte, die Iran nicht aus eigener Anschauung kennen: Der Mullah-Staat ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einer post-islamischen Gesellschaft geworden. Der Islam ist heute Teil des Problems - jedenfalls der Islam als leitende Staatsdoktrin, so wie ihn die iranische Führung versteht. 





Das Motto der Islamisten, "der Islam ist die Lösung", habe sich mittlerweile in Iran umgekehrt: Der Islam ist Teil des Problems - jedenfalls der Islam als leitende Staatsdoktrin, so wie ihn die iranische Führung versteht. 

Eine Anekdote gleich zu Beginn illustriert den lang anhaltenden Unmut, aber auch den Mut der Iranerinnen und Iraner und die Freiräume, die sie sich erkämpft haben.



Amirpur berichtet von ihrem ersten Aufenthalt im Land 1991, Jahre nach ihrer Kindheit in Iran.



Damals habe eine Frau lauthals auf die iranische Politik geschimpft und den damaligen Präsidenten Ali Akbar Rafsandschani beleidigt, er solle seinen Turban aus- und sich "vernünftige Sachen" anziehen.

Konsequenzen hatte ihre Tirade keine, sie sprach aus, was viele dachten. Eine ähnliche Szene erlebte der Rezensent bei einem Iran-Aufenthalt 2005.

Kaum vor der ehemaligen amerikanischen Botschaft und heutigen Propagandastätte in Teheran angekommen eilten gleich mehrere Passanten herbei, um zu warnen, dass man diese dumme Regimepropaganda bloß nicht ansehen solle. 

Aber auch wenn es heute nur noch um die Überwindung des aktuellen Systems, nicht seine Veränderung geht, macht Amirpur deutlich, wie wichtig die Debatten und die Systemkritik aus dem religiösen Lager waren.



Darunter waren schiitische Instanzen wie der einst als Chomeini-Nachfolger ausgebootete Großayatollah Montazeri oder Gelehrte wie Abdolkarim Soroush und Hasan Eshkevari. Amirpur erinnert daran, wie weit ihre Forderungen gingen und welch hohen Preis einige von ihnen zahlten: Der Geistliche Eshkevari wurde nach der berüchtigten "Berlin-Konferenz" 2000 wegen "moharebe" (Krieg gegen Gott) angeklagt - derselbe Straftatbestand, den die die Regierung heute nutzt, um Protestierende hinrichten zu lassen. 

Verpasste Chancen unter Mohammad Chatami? 

In ihrer Betrachtung erhält die Zeit unter Präsident Mohammad Chatami (1997 - 2005), in der diese Kritiker wirkten, besondere Aufmerksamkeit. Amirpur sieht sie, immer noch, als eine verpasste Chance, denn Chatami und viele seiner Mitstreiter wollten Iran nachhaltig öffnen und die systematischen Rechtsverletzungen beenden.

Chatami wurde allerdings in den USA und auch in Europa als Systemrepräsentant des Mullah-Staates weitgehend isoliert. Die weitreichenden US-Sanktionen, so Amirpur, hätten in der Vergangenheit der Zivilgesellschaft das Wasser abgegraben, während sie das Regime kaum trafen. 

Diese Betrachtungen sind auch heute wichtig, wenn zwar stets "maximaler Druck" gegen die iranische Regierung gefordert, aber selten ausbuchstabiert wird, was das konkret heißt. "Es könnte tatsächlich klappen", lautet Amirpurs knappes Fazit über den begonnenen revolutionären Prozess angesichts der tief verwurzelten Unzufriedenheit jenseits aller ethnischen oder religiösen Identitäten.



Allerdings hätte man sich über ihre erhellenden Analyse der Ursprünge der Proteste hinaus noch eine ausführliche Betrachtung gewünscht, was für einen Erfolg der Revolution jetzt notwendig wäre und wie eine andere bessere Zukunft im "post-islamischen" Iran denn aussehen könnte. 

Ob Amirpur mit ihren Analysen für Gilda Sahebi, Autorin des Buches "Unser Schwert ist Liebe", eine "Mullah-Versteherin" ist? Mit diesem polemischen Begriff beschreibt Sahebi eine Geisteshaltung, die ihrer Wahrnehmung nach sowohl "in der Politik als auch in der medialen Berichterstattung" in Deutschland vorgeherrscht habe.

Gilda Sahebi: "Unser Schwert ist Liebe". Die feministische Revolte im Iran. S. Fischer Verlage, Frankfurt 2023; (Foto: S. Fischer)
Die Journalistin Gilda Sahebi liefert in ihrem Buch hervorragende Einblicke in die Protestbewegung und ihre Protagonistinnen. Sie erzählt vom Mut der Protestierenden und von der unerhörten Brutalität des Regimes und lässt auch die eigene Familiengeschichte einfließen. Seit Beginn der Revolution ist Sahebi eine der präsentesten Stimmen zu Iran in Deutschland - sowohl in den sozialen Medien als auch mit ihrer journalistischen Arbeit.





Dass von "Reformern" oder "Moderaten" gesprochen worden sei, sieht sie als Beleg dafür, denn es könne in einem "System wie der Islamischen Republik keine Reformer geben".



Aktuell stimmt das zweifelsohne, wird aber den von Amirpur ausführlich geschilderten inneriranischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte nicht gerecht.



Eine differenzierte und kritische Debatte über deutsche Beziehungen zu Iran inklusive ihrer blinden Flecken wäre an dieser Stelle lohnenswert gewesen. 

Familienbesuche waren nie normal 

Aber das ist nicht das Kernthema von Gilda Sahebis Buch. Es liefert hervorragende Einblicke in die Protestbewegung und ihre Protagonistinnen.



Im ersten Kapitel rekapituliert Sahebi, was seit dem Mord an Jina Mahsa Amini passierte - sie erzählt vom Mut der Protestierenden und von der unerhörten Brutalität des Regimes.

Auch die eigene Familiengeschichte lässt sie einfließen, erzählt vom Gefühl des Nachhausekommens bei Besuchen in Iran, von ganz normalen Familienbesuchen, die doch nie normal waren.

Sie von Sehnsucht und Schmerz, seit ihr Vater und ein Onkel, einst idealistische Revolutionäre gegen den Schah, vor den Schergen des Regimes fliehen mussten.

Seit Beginn der Revolution ist Sahebi eine der präsentesten Stimmen zu Iran in Deutschland - sowohl in den sozialen Medien als auch mit ihrer journalistischen Arbeit. Dafür recherchiert Sahebi immer wieder unter schwierigen Bedingungen aus der Ferne und vor Ort, was sie auch im Buch reflektiert. 

In ihrem Buch sprechen auch die Protagonistinnen dieser Recherchen selbst, meist unter Pseudonym. Afra berichtet von ihrer Diskriminierung als Kurdin, Jakaw Nick von der Verfolgung als Transperson. Es sind Porträts, die nahegehen und die ganz persönliche Diskriminierung durch das Regime anschaulich machen.

Ebenso wie die Geschichte von Elaheh Mohammadi, einer der Journalistinnen, die als erste über Mahsa Amini berichteten, oder das Schicksal des vom Regime inhaftierten und gefolterten Rappers Toomaj - der Titel von Sahebis Buches stammt aus seinem Protestsong "Schlachtfeld".

Ein ausführliches Interview mit Nasrin Sotudeh, einer Ikone der Menschenrechtsbewegung, gibt tiefe Einblicke in ihre jahrzehntelange Arbeit als Anwältin und prinzipientreue Gegnerin der Todesstrafe.

Sahebi beschreibt den brutalen Einsatz sexualisierter Gewalt des Regimes, die systematische Verfolgung von Journalistinnen oder von medizinischem Personal und wie sie alle trotz größter Widerstände weiterarbeiten. Sahebi gelingt eine erste Bestandsaufnahme der Proteste: engagiert, aktuell und persönlich. 

Der Schmerz der Exilantinnen 

Natalie Amiri und Düzen Tekkal schließlich sind zwei weitere Protagonistinnen, die der deutschen Öffentlichkeit die Geschehnisse im Iran näherbringen. Der große Verdienst des von ihnen herausgegebenen Buchs ist es, den iranischen Frauen selbst eine Plattform zu bieten. Insgesamt 15 bekannte und einige weniger bekannte Persönlichkeiten berichten in den Gesprächsprotokollen von ihrem Blick auf die Proteste und einem Gefühl, das sie vereint: "Wir haben keine Angst", so der Titel des Buches.

Natalie Amiri, Düzen Tekkal: Wir haben keine Angst! Die mutigen Frauen Irans. E. Sandmann Verlag, Frankfurt 2023;  (Foto: E. Sandmann)
Der große Verdienst des von Natalie Amiri und Düzen Tekkal herausgegebenen Buches ist es, den iranischen Frauen selbst eine Plattform zu bieten. Insgesamt 15 bekannte und einige weniger bekannte Persönlichkeiten berichten in den Gesprächsprotokollen von ihrem Blick auf die Proteste und einem Gefühl, das sie vereint: "Wir haben keine Angst".





Unter ihnen sind nur wenige, die noch immer in Iran leben. Sie äußern sich entweder anonym oder nehmen die Konsequenzen in Kauf.



So wie die auch in diesem Buch interviewte Nasrin Sotudeh oder die Menschenrechtlerin Narges Mohammadi, deren Text für das Buch aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde. 

Zwei junge Frauen berichten anonym von der systematischen Entrechtung von Frauen durch die Islamische Republik und von ihrer kollektiven Gegenwehr im revolutionären Alltag.



Sie werden nicht als furchtlose Heldinnen überhöht, sprechen auch von ihren Sorgen und Ängsten angesichts des brutalen Vorgehens des Regimes.



Stark sind auch jene Texte, die Hintergründe der Diskriminierung der religiösen und ethnischen Minderheiten thematisieren, der Bahai, der Kurdinnen, der Belutschinnen.



Sie tragen jetzt wieder stolz ihre traditionellen Gewänder, die sie einst unter Zwang gegen den schwarzen Tschador eintauschen mussten. 

Im Fokus steht oftmals der Schmerz der Exilantinnen, die Iran in den Jahrzehnten nach der Revolution verlassen mussten.



So schildert die israelische Sängerin Rita, mit acht Jahren aus Iran geflohen und heute zum Missfallen des Regimes in Iran bekannt und von vielen verehrt, ihre Erinnerungen an ihre Kindheit in Teheran und erzählt von ihrem Traum: Eines Tages gemeinsam mit Shervin in Teheran "Baraye", die Hymne der Revolution, zu singen.

Für Parastou Forouhar, bekannte Künstlerin aus Frankfurt, sind mit Iran besonders schmerzvolle Erinnerungen verbunden. Ihrer bewegenden Geschichte und ihrem grenzenlosen Mut wird in allen drei besprochenen Büchern Raum eingeräumt. Seit ihre Eltern 1998 vom Regime auf bestialische Weise ermordet wurden, reist Forouhar jedes Jahr zum Jahrestag des Mordes in das Land, um dort ein Zeichen zu setzen. Sogar 2022, während der Proteste, wovon sie im Buch berichtet. 



 

 

Eine revolutionäre Strategie fehlt offenbar 

Unter den Exilstimmen sind schließlich auch jene drei Frauen vertreten, die das jüngst gebildete breite Bündnis für einen Wandel anführen: Masih Alinejad, Nazanin Boniadi und Shirin Ebadi. Von ihnen liest man kaum Neues, erfährt wenig Konkretes; einzig die Notwendigkeit, die Revolutionsgarden als Terrororganisation zu listen, wird mit Blick auf Handlungsoptionen benannt.



Für eine revolutionäre Strategie reicht das nicht. Dabei hätte man gerade von der hochangesehenen Shirin Ebadi gern mehr darüber erfahren, wie der Weg in einen neuen, demokratischen Iran aussehen könnte. 

Die Frage, welche konkreten politischen Schritte jetzt notwendig wären, bleibt in den drei Büchern weitgehend unbeantwortet. Aber es gelingt ihnen eine umfangreiche, oft bewegende Momentaufnahme der revolutionären Proteste.



Die professionellen und persönlichen Einblicke der Autorinnen, ihre Recherchen vor Ort, ihre Einfühlsamkeit und Solidarität machen sie und ihre Bücher zu enorm wichtigen Begleiterinnen der revolutionären Umwälzung im Iran, die gerade erst begonnen hat. 

René Wildangel 

© Qantara.de 2023  

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem über den Nahen und Mittleren Osten. 

 

Katajun Amirpur, "Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat", Verlag C.H. Beck, München 2023, 240 Seiten

Gilda Sahebi, "'Unser Schwert ist Liebe'. Die feministische Revolte im Iran", S. Fischer Verlage, Frankfurt 2023, 256 Seiten

Natalie Amiri, Düzen Tekkal, "Wir haben keine Angst! Die mutigen Frauen Irans", E. Sandmann Verlag, Frankfurt 2023, 144 Seiten