Die persische Nachtigall
Jetzt, im Teheraner Mittwinter, ist wieder die Konzertsaison in der Islamischen Republik angebrochen. Zwei Monate lang konnte man im Land keine größeren – zumindest keine freudigen – Konzerte erleben. Im Monat "Moharram", in dem die Schiiten den Märtyrertod von Imam Hussein betrauern, sind Unterhaltungsmusik und Ausgelassenheit fehl am Platz. In den traditionellen Restaurants wird dann die Liveperformance ausgesetzt, in den Teehäusern die Hintergrundmusik etwas leiser gedreht.
Zu den Großen der iranischen Musikszene, die ihre Auftritte nun wieder über Zeitungsannoncen und Plakate ankündigen, zählt zweifelsohne auch Shahram Nazeri. Nazeri ist neben Mohammad Reza Shajarian und Ali Reza Ghorbani im Iran der beliebteste klassische Sänger. Von der "New York Times" wurde er einst als "persische Nachtigall" bezeichnet.
Shahram Nazeri – das kulturelle Gesicht Irans
Tatsächlich ist Shahram Nazeris Benefizkonzert für Leprakranke in der Festhalle des Milad-Turms schon sehr rasch ausverkauft. Die Konzerte beliebter Sänger wie Nazeri sind in Teheran stets überaus gut besucht. Doch auf die Gesamtgröße der Stadt gerechnet nimmt sich die Konzertszene Teherans eher bescheiden aus, denn nach der Islamischen Revolution von 1979 sind zahlreiche Künstler ins Exil ausgewandert. Andere – wie Shahram Nazeri – blieben und geben dem Iran auch unter den erschwerten Bedingungen der Zensur weiterhin sein kulturelles Gesicht.Shahram Nazeri wurde 1950 in eine kurdische Künstlerfamilie geboren.
Auf dem Schoß der Mutter las er als kleiner Junge bereits seine ersten Gedichte und wurde vom Vater, selbst ein bekannter Sänger und Setar-Spieler, an die klassische persische Musik herangeführt. Im Alter von neun Jahren hatte Nazeri einen ersten Auftritt im lokalen Radio seiner Heimatstadt Kermanshah. Später zog er zum Studium der persischen Kunstmusik nach Teheran und lernte dort bei den großen Meistern des Fachs.
Schon in den frühen Jahren seiner Karriere entwickelte Nazeri eine besondere Leidenschaft für die Lyrik Jalaluddin Rumis, dem Größten unter den mystischen Dichtern Persiens. Nazeri war der erste bekannte Sänger, der mit den Gedichten Molawis (so heißt Rumi im Iran) experimentierte. Er begann vor 35 Jahren mit der Vertonung von Molawis Gedichten und schuf dafür einen eigenen Musikstil.
Im Geiste Rumis
Shahram Nazeris mittlerweile über 40 Alben enthalten hauptsächlich die Verse Rumis. Viele davon wurden Bestseller im Iran und sind international im Genre der spirituellen Musik bekannt geworden. Nazeris Album "Gol-e sad barg" (Die einhundertblättrige Blume), das er zum 800. Geburtstag Molawis aufnahm, avancierte zu einem der meist verkauften Alben in der Geschichte Irans.
Shahram Nazeris vielseitige Stimme ist genau für die Bandbreite von Emotionen und Stimmungen geeignet, die in der Poesie Rumis zur Sprache kommen: leidenschaftlich und aufbrausend, wenn er aus den liebesfeurigen Ghaselen des "Diwan-e Shams" singt und geheimnisvoll-leise in Versen, in denen der Suchende den Gründen seiner Seele nachspürt.
Meistens singt Shahram Nazeri zu einem Ensemble aus traditionellen Instrumenten. In seinen Konzerten ist er gemeinsam mit den großen Meistern der persischen Musik wie Mohammed-Reza Lotfi, Kayhan Kalhor und Hossein Alizadeh aufgetreten. Sein Sohn, Hafez Nazeri, ist inzwischen selbst ein bekannter Sänger im Iran und mit Musikprojekten zu Rumi international bekannt geworden.
Schwerpunkt Kurdistan
Konzertabend in Teheran: Die Musiker des Molawi-Ensamble, bestehend aus Setar, Tar, Santur, Ud, Tonbak und Daf, sitzen bereits auf ihren Stühlen. Shahram Nazeri betritt die Bühne und spricht zum Publikum. Seine Stimme ist anfangs leise, fast ein wenig unsicher. Er erklärt das Programm des Abends: Zunächst wird er einige der Klassiker unter den Rumi-Stücken singen und dann kurdische Volkslieder.
Das Konzert beginnt mit ruhigen, getragenen Gedichten aus dem Repertoire Nazeris. "Komm, komm wieder, wer immer du bist, komm wieder!" – wer Farsi versteht, dem wird die fantastische Vereinigung von Wort und Ton in diesem Gedicht Molawis, einem Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit, unter die Haut gehen.
Im zweiten Teil des Abends widmet sich Nazeri der Musik seiner Heimatregion Kurdistan. Mit Begeisterung erzählt er dem Publikum von der Vielfalt im kurdischen Westiran. "In Kurdistan hat jedes Dorf seinen eigenen Musikstil", sagt Nazeri. Das sei im Iran, ja sogar in der Welt, einzigartig. Kurdistan ist eine kulturell vielseitige Region und bis heute hat sich in den kurdischen Städten und Dörfern eine eindrucksvolle Volkskultur erhalten, in der der Sufismus eine wichtige Rolle spielt.
Die kurdischen Stücke unterscheiden sich von den Gedichten des ersten Konzertteils. Sie wirken archaischer, haben eingängige Melodien und Rhythmen. Beim letzten Stück – ein besonders dynamisches kurdisches Volkslied – holen die Musiker des Molawi-Ensembles alles aus ihren Instrumenten. Die Konzertbesucher beginnen sich zu bewegen, eine euphorische Stimmung breitet sich plötzlich aus.
Begeisterungsstürme des Publikums
Zum Ende des Stückes ruft und klatscht die Menge im Takt der Musik. Die Zuhörer sind ergriffen von der Leichtigkeit der Musik, springen auf, reißen die Arme über ihre Köpfe. Viele holen Taschentücher hervor und wedeln damit in der Luft, einige Frauen benutzen das Ende ihres lose umgeworfenen Kopftuchschals. Shahram Nazeri feuert mit seiner virtuosen Stimme singend die Menge an. So viel Ausgelassenheit – und das bei einem traditionellen Konzert?
Nach dem Lied richtet Nazeri nochmals das Wort an sein Publikum. So viel Ekstase habe er in seiner 30jährigen Musikkarriere auf Konzerten selten erlebt. "Lasst uns das als ein gutes Omen nehmen", sagt er in Anspielung auf das beginnende kulturpolitische Tauwetter unter dem neuen iranischen Präsidenten Hassan Rohani. "Mögen die Freude, das Lächeln in den Gesichtern und die Blumen der Hoffnung, die im Moment in den Herzen der Menschen aufblühen, Bestand haben", so Nazeri, gefolgt von einem neuerlichen, lang anhaltenden Applaus.
Schenkt man den Worten Rohanis tatsächlich Glauben, so scheint sich in der Kulturpolitik Irans derzeit tatsächlich etwas zu tun. Im Januar sprach der neue Präsident vor einer Versammlung von nationalen Künstlern in der Vahdat-Halle in Teheran: "In einer unfreien Atmosphäre kann keine wirkliche Kunst entstehen (...) Die Aufgabe der Regierung ist es, sich nicht in die Künste einzumischen."
Als ersten konkreten Schritt kündigte Rohani die Wiederbelebung des Teheraner Symphonieorchesters an, das sein Vorgänger Ahmadinedschad geschlossen hatte. Die Musiklandschaft in Teheran könnte also um neue klassische Konzerte bereichert werden – wenn nicht gerade "Moharram" ist.
Massoud Schirazi
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara