Droht das Comeback der Dschihadisten?
Der damalige irakische Premierminister Haider al-Abadi feierte es wie einen Triumph: "Der 'Islamische Staat' im Irak ist besiegt", verkündete der Regierungschef noch im Dezember 2017. Doch nur ein Jahr später hat sich die Lage geändert. Der Terror des IS sickert langsam dorthin zurück, wo die Islamisten einst ihre Hochburgen hatten.
In Tikrit starben vor wenigen Tagen fünf Menschen bei der Explosion einer Autobombe. Bei den ersten schweren Bombenattacken auf Mossul seit der Befreiung von der Terrormiliz kamen unlängst vier Menschen ums Leben. Wie präsent der IS auf irakischem Terrain ist, zeigt auch eine andere Meldung: Erst vor Kurzem nahmen irakische Sicherheitsbehörden in Mossul 52 Terrorverdächtige fest - unter ihnen führende Kader des IS.
Den vom Premierminister verkündeten Sieg über den IS habe es nicht gegeben, sagt mittlerweile General Aziz Weysi Bani von der Gendarmerie der Peschmerga in der autonomen Region Kurdistan. Diese kurdischen Spezialeinheiten haben im Irak eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS übernommen. Um den IS aus der Region zu vertreiben, verbündeten sich die Kurden mit der irakischen Armee und den schiitischen Milizen. Von den internationalen Koalitionstruppen wurden sie ausgebildet und erhielten Luftunterstützung. Insgesamt mehr als 1.800 kurdische Kämpfer wurden in den Kämpfen getötet.
Doch ein Jahr nach dem vermeintlichen militärischen Sieg über die Islamisten schlägt der General Alarm: Der IS sei immer noch eine große Bedrohung, umso mehr, als die Welt fälschlicherweise davon ausgehe, dass die Miliz im Irak schon zerschlagen sei und in Syrien kurz vor dem Aus stehe. "Niemand kennt die Gefahr besser als wir", berichtet der Offizier und verweist auf die Erfahrungen seiner Kämpfer sowie auf aktuelle Geheimdienstinformationen.
Profiteure des politischen Vakuums
In seinem Hauptquartier in einem Gebäude des Flughafens der Regionalhauptstadt Erbil warnt Weysi davor, die Schlagkraft des IS zu unterschätzen. Der Aufstieg des IS, den in der Region alle "Daesh" nennen, ist für den Militär das Resultat tief sitzender politischer Konflikte im Irak. Die Terrormiliz profitiere auch weiterhin von der politischen Lage im Land.
Die desillusionierte sunnitische Minderheit beklagt mangelnde Unterstützung durch die irakische Zentralregierung. Bagdad biete nur sehr wenig Hilfe beim Wiederaufbau der Städte im Norden an. Nach der anfänglichen Euphorie klagen die Bewohner dort nun über die schiitischen Hashd al-Shaabi-Milizen, die weitreichende Sicherheitsaufgaben übernommen haben. Entführung, Erpressung und Unsicherheit gehören nun wieder zum Alltag.
Bis zum Oktober 2017 standen die sowohl von der Zentralregierung als auch von den Kurden beanspruchten Gebiete unter kurdischer Kontrolle. Nun haben schiitische Milizen dort die Kontrolle übernommen. "Wir vertrauen ihnen nicht, und sie vertrauen uns nicht genug, um sich auf Daesh zu konzentrieren", sagt der General über die Milizen. "Und Daesh nutzt das entstandene Vakuum. Sie haben viele Tunnel errichtet, in denen sie sich verstecken können, da es viele Orte gibt, die die irakische Armee nicht kontrolliert und nie besucht hat."
In dem Büro des Generals hängt ein Porträt von Kurdistans Ex-Präsident Masud Barzani an der Wand. Hier erklärt Weysi, wie die Kämpfer sich organisieren. Eine Gruppe IS-Terroristen brauche Geld, eine Ideologie, Handlanger und Führung. Geld beschaffe sich der IS mit dem Verkauf von Öl.
Die Ideologie sei in den Köpfen konservativer Sunniten noch präsent und bis heute kämpften viele Ausländer und ehemalige irakische Militär- und Geheimdienstangehörige mit IS-Gruppen in den letzten verbliebenen IS-Gebieten in Syrien. Und die Führung um Abu Bakr al-Baghdadi wurde immer noch nicht gefunden. "Es sind noch rund 3.000 Soldaten des IS übrig. Viele werden von Syrien in den Irak kommen, wenn sie dort an Boden verlieren. Im Jahr 2014 haben sie mit nur 500 Mann Mossul eingenommen."
Mossul zahlt den Preis für die IS-Herrschaft
Die Angst vor einem neuen Angriff des IS auf Mossul breitet sich auch in der Bevölkerung der Millionenstadt aus, die drei Jahre lang unter der Besatzung durch die Terrorgruppe gelitten hat. Während die Einwohner dankbar waren, als das irakische Militär die Stadt am Ufer des Tigris befreit hat, haben viele Bewohner heute nicht mehr den Eindruck, dass die Armee und die schiitischen Hashd al-Shaabi-Milizen ihre Sicherheit garantieren. Unter Zusicherung der Anonymität erklärt ein Polizist in Mossul, dass es immer noch IS-Aktivisten in der Stadt gebe. Aber ohne Beschwerden oder Zugehörigkeitsnachweis könne die Polizei nichts tun.
Die Angst ist noch größer geworden, als Anfang November eine Bombe in der Nähe des beliebten Abu Layla Restaurants in West-Mossul explodierte. Vier Menschen kamen dabei ums Leben, elf wurden verwundet. "Daesh versucht uns zu zeigen, dass sie hier sind, weil wir 15 von ihnen ein paar Tage zuvor getötet haben", sagt Generalmajor Jasim Mohammed, der stellvertretende Befehlshaber des ‚Nineveh Operations Command‘, das die Streitkräfte im Gebiet Mossul koordiniert.
Aber er sieht in dem Bombenanschlag keinen Beweis für eine neue Gefahr durch den IS. "In Mossul ist Daesh Geschichte. Alles, was von ihnen übrig bleibt, sind ein paar Schläferzellen, die wir versuchen auszurotten", so der Offizier.
Am wichtigsten sei, sagt er, dass der IS nicht mehr auf die Unterstützung der Menschen in Mossul zählen könne, die 2014 geholfen haben, die Stadt einzunehmen. "Die Menschen haben die schlimmsten drei Jahre ihres Lebens hinter sich. Sie werden nie wieder dasselbe tun. Viele Leute versorgen uns jetzt mit Informationen. Daesh versucht nur, sie einzuschüchtern."
"Mossul ist der Preis"
Doch Mossul, die Hauptstadt ihres selbsternannten Kalifats, ist für die IS-Terrormiliz immer noch von Bedeutung. Vor der Kommandozentrale, die früher ein Palast des irakischen Diktators Saddam Hussein war, wartet Mohammeds Vorgesetzter, Generalmajor Najim al-Jobori, auf einen Konvoi, der ihn in die Stadt bringt. "Mossul ist der Preis. Sie werden es zurückhaben wollen", meint er. Gleichzeitig versucht er, die Zivilbevölkerung von der neuen Sicherheitslage zu überzeugen, indem er auf Märkten, auf der Straße und auch bei einer Beerdigung Präsenz zeigt.
Auch kurdische Peschmerga-Führer warnen vor einer Rückkehr des IS, während internationale Beobachter davon ausgehen, dass die Terrormiliz immer noch eine globale Bedrohung darstellt. Sie mag geschwächt sein, analysiert General Weysi, aber "[die Gruppe] wird wieder stärker, lernt aus ihren Fehlern und kommt mit anderen Taktiken zurück".
Seit der Befreiung Mossuls gibt es Warnungen vor einer "Neuerfindung" des IS. Aber die irakische Regierung leugne diese Gefahr, so Weysi. "Sie darf ihr Gesicht nicht verlieren. Und sie leugnet weiterhin die Beweise, weil sie die Amerikaner loswerden wollen."
Die Kurden seien bereit, auch gegen die schiitischen Milizen in der autonomen Region zu kämpfen. Man wolle sich aber lieber auf den IS konzentrieren. Zu diesem Zweck ruft Weysi die Europäische Union auf, Druck auszuüben, damit es zur Wiedervereinigung der Anti-IS-Kräfte kommt.
"Ich hoffe, dass Europa zuhören wird, denn der Kontinent steht stärker im Fokus von Daesh als die USA. Und die Terrormiliz ist geduldig. Sie wartet auf einen günstigen Zeitpunkt. Der IS mag in Europa eine Weile inaktiv bleiben, aber wenn die Gruppe hier wieder Kraft tankt, wird sie auch in Europa wieder aktiv werden."
Judit Neurink
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