Sprachlose Araber
Jeder Arabistik-Student kennt das Paradox: Nach jahrelanger Paukerei des kniffligen Hocharabisch, reist man zu den Menschen vor Ort, nur um festzustellen, dass die Araber alles Mögliche sprechen – nur nicht das, was im Lehrbuch steht. Ja, nicht einmal der Syrer von der Westküste klingt so wie der Beduine aus dem Landesosten. Und beide zusammen blicken ihrerseits ratlos, wenn der Algerier "derangtak?" (stör' ich dich?) fragt. Oder der Ägypter frech "sbellaha!" (buchstabier' das mal!) fordert. Denn - ersteres leitet sich von "déranger" ab und ist ein Versatzstück des französischen Kolonialismus, während "sbellaha" das englische "spell" und damit den britischen Einfluss noch Jahrzehnte später widerkäut. Syrien hingegen versteht sich als "das Herz des Arabismus" und befindet solches Kauderwelsch für schlicht unaussprechlich.
Fakt ist: Den Mittleren Osten durchziehen derart viele politische, ethnische, aber auch klimatische Trennlinien, dass eine mündliche Verständigung mit all seinen 360 Millionen Einwohnern unmöglich ist. Und zwar nicht nur für die Ausländer, sondern auch für die Araber selbst. Zumal sie ihre diversen Dialekte permanent weiterentwickeln - so verwirren aktuell beispielsweise junge Tunesier ihre Händler mit neuen Namen für altbekannte Geldscheine.
Dass das Arabische blüht, ist somit unbestreitbar. Das Gesprochene wohlgemerkt. Das Geschriebene verweilt unterdessen in einem weniger gut besuchten Paralleluniversum. Im Fall der Golfstaaten fristet es sogar nunmehr ein Schattendasein hinter dem Englischen: 68 Prozent aller Golfaraber zwischen 18 und 24 Jahren haben laut dem Arab Youth Survey Report, den das PR-Unternehmen "Burson-Marsteller ASDA'A" durchführt, 2017 mehr Englisch als Hocharabisch gesprochen. Gegenüber 2016 sei das ein Zuwachs von 12 Prozent.
WhatsApp contra Hocharabisch
Der 25-jährige Hammad Hussein aus Doha weiß auch genau warum: Das Englische sei "zielgenauer, zackiger und direkt am Puls der Zeit". Das Hocharabische hingegen könne mit seinem blumigen Wortschatz und den verschachtelten Satzbauten in einer digitalisierten Welt voller Bits und Bytes "gar nicht mithalten". "Oder haben Sie schon einmal versucht, auf Hocharabisch eine SMS oder WhatsApp zu schreiben?", grinst der Softwareingenieur.
Maher Fakhroo, 23 Jahre alt und Student der Biotechnologie an der "Carnegie Mellon University Qatar" (die wie viele qatarische Eliteuniversitäten US-Vorbildern nachempfunden wurde) sieht das ähnlich: Das Hocharabische entstamme einer Region, die seit langem nichts mehr zur Moderne beigetragen habe. Man müsse sich nur einmal die Liste moderner arabischer Wissenschaftler auf Wikipedia ansehen: Alle, die etwas geleistet hätten, hätten dies im Westen und meist in den USA getan. Der Mittlere Osten hingegen sei rückständig und seine sperrige Hochsprache versinnbildliche das nur.
Flucht vor festzementierten Identitäten
An sich klingt all dies völlig pragmatisch: Die Jugend der wohlhabenden Golfstaaten ist hervorragend ausgebildet und will ihre Fähigkeiten auch auf dem globalen Markt beweisen. Dass sie dabei mit Englisch besser beraten ist, als mit der Sprache des Koran, leuchtet ein.
Tatsächlich aber geht es um viel mehr als nur um berufliche Selbstentfaltung, seufzt Hossam Abouzahr. Der Linguist weiß, wovon er redet: Er selbst wurde in den USA geboren, nachdem sein Vater in den Siebzigern vor dem libanesischen Bürgerkrieg dorthin geflüchtet war. In Michigan brachte sich Abouzahr das Hocharabische im Alleingang bei und verliebte sich derart in die "sperrige Sprache", dass er 2015 das Online-Lexikon "Lughatuna" ("Unsere Sprache") lancierte, das die Bedeutung von Worten auf Hocharabisch sowie im levantinischen und ägyptischen Dialekt anzeigt.
Dass er – anders als viele Einheimische - sein arabisches Erbe so stolz pflegt, erklärt Abouzahr akkurat damit, dass er nicht vor Ort aufwuchs. "Mein Vater hat nach seiner Flucht aus dem Libanon alles gehasst, was ihm in seiner Heimat als seine Identität angetragen wurde – den Islam, den Arabismus, den ganzen Mittleren Osten. Mir hingegen hat in den USA kein Mensch diktiert, was arabische und muslimische Identität zu bedeuten hat. In einem arabischen Land aber wirst du sofort in Ecken gedrängt: 'Bist du ein Muslimbruder?'. 'Was denkst du über Kopten?'. 'Über Kurden?'. 'Bist du Nationalist?'. 'Wieso bist du nicht in der Gemeinde dieses oder jenes Scheichs?'". Viele junge Araber hätten den ewigen Druck satt und würden sich - sofern ihnen wie in den Golfstaaten oder auch im Libanon die Ausbildungschancen geboten werden - auf Fremdsprachen konzentrieren. "Nur so kommen sie an begehrte Posten in internationalen Unternehmen heran und aus dem Würgegriff ihrer Gesellschaften heraus", erklärt Abouzahr.
Hocharabisch macht demzufolge nicht viele stolz. Aber was wohl noch schlimmer ist: Es macht den Allerwenigsten Spaß.
Langeweile als Hauptfach
Schuld daran ist vor allem das arabische Bildungswesen, das in sämtlichen arabischen Staaten den Schülern das Vergnügen am Erlernen ihrer Muttersprache anscheinend systematisch auszutreiben sucht, indem es auf dumpfes Auswendiglernen setzt. Dass all die verschnörkelten Buchstaben etwas mit dem realen Leben zu tun haben könnten, steht jedenfalls nicht auf den Lehrplänen. Und das angesichts einer jahrhundertelang hochproduktiven arabischen Literatur.
Nun ist es keineswegs so, dass die Araber ihre Dichter nicht kennen würden. Im Gegenteil: Anders als der hiesige vermag der dortige Normalverbraucher reihenweise Verse aus dem Ärmel zu schütteln. Die Frage ist nur - wenn er beispielsweise Al-Mutanabbi (ca. 915-965) zitiert mit: "Furcht ist nichts anderes, als was die Menschen sich denken als furchtbar; Sicherheit ist dort, wo man gesichert sich glaubt" - zitiert er dann, weil er die Worte Al-Mutanabbis durch das exzessive Auswendiglernen schlicht intus hat, oder weil er tatsächlich etwas von der Denkweise des wortgewaltigen Irakers verinnerlicht hat?
Weiß er beispielsweise, dass Al-Mutanabbi mit den Qarmaten sympathisierte – jener Sekte, die im 9. Jahrhundert ihre eigene, auf Gleichheit und Gütergemeinschaft basierende Republik in Bahrain errichtete, letztlich den Atheismus propagierte und gar die Kaaba aus Mekka entführte?
Dass den Führern des heutigen Mittleren Ostens nichts an einer kenntnisreichen Auseinandersetzung mit solchen Geschichtsdetails liegt, ist klar. Doch es existiert ja auch politisch harmlose, dafür aber mitreißend geschriebene Gegenwartsliteratur. Etwa Ghada Abdelaals "Ich will heiraten", in dem die junge Ägypterin sarkastisch jene zehn Heiratskandidaten beschreibt, die sie ablehnte, was ihre Mutter in die Verzweiflung und zu nächtlichen Unterhaltungen mit dem Eisschrank trieb.
Aber auch dieser Lesestoff bleibt in den Klassenzimmern außen vor. Schließlich schreibt Abdelaal im ägyptischen Dialekt und arabische Erziehungsministerien möchten ihre Vernachlässigung des Hocharabischen nicht noch durch die Förderung der Mundarten amtlich machen. Und was für sie womöglich noch prekärer ist: Wer einmal Lust am Lesen gefunden hat, könnte ja auf die Idee kommen, weiterzulesen. Oder gar selbst zu schreiben.
Sprachliche Selbstverweigerung
Wie erfolgreich die Entmutigungsstrategie der Behörden ist, beweist der Buchmarkt: 2011 erschienen rund 17.000 neue Titel - davon 2.400 Übersetzungen ins Arabische. Mit ihren 360 Millionen Einwohnern hat die arabische Welt demnach genauso viele Bücher produziert wie Rumänien mit seinen 21 Millionen Bürgern.
Dass die arabischen Regime mit ihrer omnipräsenten Zensur und dem sinnfreien Schulunterricht die Unlust am Hocharabischen gefördert haben, ist kaum abzustreiten. Aber haben sie auch die Lust am eigenen Dialekt angekurbelt? Und zwar in dem Sinn, dass gar von einer verbalen Selbstverweigerung gegenüber der Hochsprache die Rede sein kann?
Abouzahr ist davon überzeugt. Zwar hätten die Araber ihre Mundarten schon immer gepflegt - doch in den letzten 70 Jahren seien sie flächendeckend von Autokraten beherrscht worden, die ihnen nichts außer politischer Angst und wirtschaftlicher Sorge beschert hätten. Akkurat diese Führer aber schallen ihnen auf jedem Fernsehkanal und in jedem Zeitungsartikel in der Hochsprache entgegen. Dass dies das Bedürfnis nach eigenen Ausdruckswelten schüre, sei nachvollziehbar.
Vielfach geschehe dies unbewusst. Mitunter aber auch sehr bewusst, sagt Abouzahr und verweist auf Ahmad Fuad Negm. Der 2013 verstorbene ägyptische Volkspoet und lebenslange Revolutionär schrieb stets nur im Dialekt - "und seine Autobiographie liest sich wie ein einziger erhobener Mittelfinger gegenüber den staatlichen Autoritäten. Es ist kein Zufall, dass die Demonstranten während der ägyptischen Revolution 2011 durch die Straßen zogen und laut aus seinem Gedicht zitierten 'Wer sind die? Wer sind wir?'", lacht Abouzahr.
In letzter Konsequenz führt dies freilich zu einer Frage, bei der einem das Lachen doch vergeht: Wer kontrolliert die Schriftsprache? Wenn die Fähigkeit, sich ihrer geschickt zu bedienen im heutigen Mittleren Osten hauptsächlich politischen Despoten oder religiösen Eiferern vorbehalten ist, dann liegt die Gefahr der Manipulation auf der Hand.
Längst schon diskutieren beispielsweise islamistische Extremisten darüber, wie man Plünderungen und Brandschatzungen religiös rechtfertigen kann. Als Beweis führen sie "hocharabische" Begriffe an, die sie selbst erst kreiert haben.
Mona Sarkis
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