Vom Morgenland des Gefühls zur Verzerrung des Islams
Kennt noch jemand die vermeintlich altkeltischen Epen, als deren Autor der sagenhafte Ossian galt? Der wahre Verfasser war der Schotte Macpherson. Er hatte sich als Übersetzer nur ausgegeben. Doch gerade aufgrund dieser Täuschung erzielten die Poems of Ossian im 18. Jahrhundert einen durchschlagenden Erfolg.
Der Fall ist deshalb so interessant, weil sich die Übersetzung hier als das entlarvt, was sie potentiell immer ist: die äußerst fragwürdige Behauptung eines privilegierten Zugangs zu etwas Anderem, Fremdem, Neuem. Geht man vom naiven Verständnis der Übersetzung als neue sprachliche Verkleidung eines fremden literarischen Körpers aus, haben wir im Fall des Ossians nur das Kleid.
Bleiben wir im wundersamen 18. Jahrhundert. Der französische Orientalist Antoine Galland, der lange an der französischen Gesandtschaft in Istanbul tätig war, kehrt nach Paris zurück. In seinem Gepäck hat er ein Manuskript mit den Erzählungen von 1001 Nacht. Galland übersetzt gemäß der literarischen Mode seiner Zeit – eine Art zu übersetzen, die später als belle infidèle, als schöne, untreue Frau, verschrien wurde.
Auch 1001 Nacht war eine Art Ossian. Der durchschlagende Erfolg, den die Märchen überall in Europa hatten, verdankt sich nämlich der zeitgebundenen Art und Weise der Übersetzung. Hätte Galland eine 1001 Nacht-Übersetzung vorgelegt, die so nüchtern, so fidèle gewesen wäre wie die 2004 erschienene von Claudia Ott, wir dürfen sicher sein, 1001 Nacht wäre überhaupt nicht wahrgenommen worden – ebenso wie wir heute keinen Sinn mehr für das übersetzerische Verfahren Gallands und der meisten seiner Nachfahren haben, über die Borges so anschaulich in seinem Essay über die Übersetzer von 1001 Nacht berichtet. Die Frage aber, welche Übersetzung besser ist, geht am Kern dessen vorbei, was eine Übersetzung vor allem zu leisten hat.
Zauber der Lyrik
Nun ist 1001 Nacht ein sprachlich relativ einfacher Text. Es versteht sich, dass literarische Moden und sprachliche Erwartungen bei Lyrikübersetzungen eine noch viel größere Rolle spielen. In Analogie zu den 1001 Nacht-Übersetzungen ist daher anzunehmen, dass auch die orientalische Poesie in westlichen Sprachen auf eine Weise lesbar gemacht wurde, die weniger mit dem Original als mit dem zielsprachlichen Kontext gemeinsam hatte.
Und es ist kein Zufall, dass der Aufschwung in der literarischen Rezeption des Orients in derselben Zeit und mit denselben Protagonisten beginnt, die der Ossian-Fälschung so frappant auf den Leim gegangen sind. Beides markiert den Beginn eines Aufstands gegen die Entzauberung der Welt, gegen die Abwertung des Gefühls zugunsten des Verstandes.
"Einfühlung" hieß das von Herder in diesem Zusammenhang geprägte Zauberwort. Aus den Dichtungen der Bibel glaubte Herder dieselbe Ursprünglichkeit echten Gefühls herauszuspüren wie aus dem Ossian. Denn die Poesie war einem berühmten Wort von Johann Georg Hamann zufolge die "Muttersprache" des menschlichen Geschlechts. Die orientalischen Völker galten in dieser Hinsicht als Quellen von nicht zu übertreffender Authentizität.
In einem Kommentar zu seiner Volksliedsammlung formuliert es Herder wie folgt: "In den sogenannten Pöbelvorurteilen, im Wahn, der Mythologie, der Tradition, der Sprache, den Gebräuchen, den Merkwürdigkeiten aller Wilden ist mehr Poesie und Poetische Fundgrube als in allen Poetiken und Oratorien aller Zeit: Und wers unternähme, unter allen Völkern diese Arten des Wahns, der Dichtung, der Hirngespinste und Vorurteile nur mit etwas praktischem Kopfe zu sammeln: ich bin gewiss, dass der dem Menschlichen Verstande einen Dienst erwiese, den zehn Logiken, Ästhetiken, Ethiken und Politiken ihm wahrscheinlich nicht erweisen werden."
Morgenland des Gefühls
Der anti-aufklärerische Gestus dieses Statements ist unüberhörbar. Es hat zwei Seiten. Die schöne Vorderseite besteht darin, dass Herder hier jegliche fremde Dichtung gegen eine Kritik nach rationalistischen oder anderen Engstirnigkeiten in Schutz nimmt. Er eröffnet damit einen Raum, in dem die fremde Dichtung ein Heimatrecht genießt, gleich wie fremd oder abstrus sie dem einen oder anderen erscheinen mag. Selbst eine Dichtung mit Vorurteilen konnte und sollte nun vorurteilslos gesammelt werden. Das ist nichts weniger als der Anfang vom Ende des Ethnozentrismus. Aber diese Offenheit hat ihren Preis, eine dunkle Rückseite.
Jede Dichtung, die nicht aus dem europäischen Kulturraum kommt, läuft Gefahr, mit all den "Arten des Wahns" etikettiert zu werden, sobald sie den von Herder geöffneten Raum betritt. Die fremde Dichtung ist damit zwar willkommen, aber zugleich ausgesperrt von der Teilhabe an der abendländischen Vernunft. Für den Verstand ist das Abendland zuständig, für das Gefühl das Morgenland.
Man sieht hieran, dass Herder das Material für seine Attacke gegen die rationalistischen "Logiken, Ästhetiken, Ethiken und Politiken" an fast beliebigen Orten fand. Für das Gefühl konnte die Bibel ebenso zuständig sein wie die "Wilden" oder der als Fälschung noch nicht entlarvte Ossian, also Keltisches. Das Morgenland des Gefühls war eine Metapher geworden, deren metaphorische Qualität jedoch oft verschleiert blieb und mit der realen Bedeutung des Worts als konkretem geographischen und kulturellen Ort bis heute gern verwechselt wird.
Als Paradigma der orientalischen Poesie und Muttersprache des menschlichen Geschlechts galt nun aber Salomos Hohelied, das in Gestalt von Herders Übersetzung zum Inbegriff orientalischer Dichtung überhaupt wurde. Die Blumigkeit, die der orientalischen Poesie bis heute unterstellt wird, hat vermutlich genau hier den Ursprung. "Vielleicht war dieser Seufzer", schreibt Herder in seinem Kommentar, "mit einer schmachtenden Blume, mit einer duftenden Morgenrose übersandt", denn "dass sich die Morgenländer solche Boten und Briefe der Liebe in Blumengeschenken zusenden, ist aus der Montague Briefen u. a. bekannt."
Um zu erahnen, zu welchem Unfug die Herdersche "Einfühlung" imstande war, halte man sich vor Augen, dass das Hohelied irgendwann zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert vor Christi geschrieben wurde, die gute Lady Mary Wortley Montague, auf deren letters Herder verweist, aber erst im Jahr 1752 verstorben ist, ganz abgesehen davon, dass sich die fragliche Stelle auf einen türkischen Liebesbrief aus der blumennärrischen sogenannten Tulpenzeit Anfang des 18. Jahrhunderts in Istanbul bezieht.
Nun spielen Blumen im Hohelied tatsächlich eine Rolle, und vermutlich würde dies schon genügen, um das Vorurteil von der Blumigkeit der orientalischen Poesie – später allgemein verstanden als bilderreiche, in Metaphern schwelgende Sprache – tief in unser Allgemeinwissen einzusenken. Herder genügte das freilich nicht. Er macht in Gestalt seines Kommentars zum Hohelied einen ganzen Fleurop-Service auf. Denn nicht weniger als die Poesie stand bekanntlich die Natur im Dienst der gegenaufklärerischen Literatur.
Übersetzung mit dem Zeitgeist
Wenn die orientalisch-islamische Dichtung indessen nicht blumig ist, was ist sie dann? Zum Zeitpunkt, da man sich in Mitteleuropa für sie zu interessieren begann, hatte diese Dichtung schon eine tausend Jahre alte Geschichte in drei großen Kultursprachen – dem Arabischen, dem Neupersischen und dem Osmanisch-Türkischen. Man muss keine Zeile davon gelesen haben, um zu wissen, dass es Unsinn wäre, literarische Phänomene über einen so langen Zeitraum und einen geographischen Raum, der von Spanien bis nach Neu-Delhi reicht, mit ein paar Schlagworten charakterisieren zu wollen.
Nehmen wir zur näheren Erläuterung nur Hafis. In aller Regel beschränkt sich unser Wissen über ihn auf Goethes West-östlichen Divan, auch wenn darin, abgesehen von ein paar Zitaten, kein einziger Text von Hafis zu lesen ist. Selbst wer einmal eine echte Hafis-Übersetzung gelesen hat (es gibt viele, aber wirklich weit verbreitet ist keine), wird aufgrund dessen wohl kaum behaupten wollen, Hafis zu kennen. Tut er es dennoch, dürfen wir ihn einen Einfaltspinsel nennen. Ohne Persischkenntnisse ist es nur dann möglich, Hafis einigermaßen einzuschätzen, wenn man mehrere Übersetzungen in mehreren Sprachen und aus mehreren Epochen nebeneinander hält. Vergleicht man dann Hafis mit den literarischen Strömungen, die seiner Rezeption den Weg bereiteten, gerät man ins Staunen.Ist Hafis ein Empfindsamer? Ein Stürmer und Dränger? Ein Romantiker? Weder Hafis noch die wenigen weiteren Beispiele der orientalischen Dichtung, die in dem entscheidenden Jahrhundert zwischen 1760 und Friedrich Rückerts Tod 1866 in Deutschland übersetzt wurden, weisen offensichtliche Schnittmengen mit den genannten literarischen Strömungen auf.
Eher gleicht die Lyrik des islamischen Mittelalters derjenigen Dichtung, gegen die sich unsere Dichter damals abgrenzen wollten, nämlich Barock und Manierismus. Die orientalische Lyrik, die von Hafis zumal, ist weder sentimental noch empfindsam. Ihr Subjektbegriff oder ihr lyrisches Ich hat nichts mit dem zu tun, was seit dem 18. Jahrhundert unsere Lyrik auszeichnet.
Eingedeutschtes Fremdes
Im Vergleich zur Dichtung aus der Zeit von Sturm und Drang und Romantik zwingt die klassische orientalische Kunstlyrik, mit Hafis als Gipfelpunkt, den Dichter in ein Korsett aus Konventionen. Dichterisches Genie äußert sich nicht überschäumend und individualistisch, sondern indem sich der Dichter innerhalb der Vorgaben so kunstfertig bewegt, als gäbe es dieses Korsett nicht. Bis ins zwanzigste Jahrhundert gehorchte die Lyrik in den Islamsprachen einer Regelpoetik, die Herder in seiner zitierten Invektive gegen "Poetiken und Oratorien" fast gleichzeitig mit der Entdeckung dieser Poesie verworfen hatte. Wir finden in der klassischen orientalischen Lyrik zudem nur wenig, was Erneuerung, Bruch, literarische Revolution bedeutet, so sehr die Übersetzungen danach klingen oder dahingehend gelesen wurden.
Die Anschlussfähigkeit der orientalischen Dichtung im Allgemeinen und der von Hafis im Besonderen an die deutsche Literatur zwischen Sturm und Drang und Spätromantik verdankt sich zwei Faktoren, die mit dem Original gar nichts zu tun haben. Der eine ist die kulturelle Entwurzelung dieser Dichtung. Da ihre ursprünglichen Kontexte kaum bekannt sind, ist sie zwangsläufig besonders deutungsoffen.
Wir können mit ihr machen und in sie hineinlesen, was wir wollen, sie kann sich nicht wehren. Der zweite entscheidende Faktor der Hafis-Orient-Rezeption ist die Übersetzung selbst. Es ist für die Rezeption der orientalischen Literatur und des islamischen Kulturkreises in Deutschland bis heute ein äußerst folgenschwerer Umstand, dass sie in das Umfeld der genannten literarischen Strömungen und damit genau in die von Herder aufgemachte Dichotomie von Gefühl und Verstand fiel.
Es war unvermeidlich, dass die wenigen Übersetzer der orientalischen Literatur das zu übersetzende Material ihrem Zeitgeist, ihrer Sprachgemeinschaft lesbar zu machen versuchten, es ihr anverwandelten und für sie gleichsam frisierten. Diese Anverwandlung den Übersetzern vorzuwerfen, wäre ahistorisch. Wir müssen ihnen im Gegenteil dankbar dafür sein, ihrer Zeit gemäß übersetzt zu haben. Hätten sie versucht, die orientalische Dichtung etwa so zu übersetzen wie Hölderlin die Griechen, ihre Arbeit hätte, wie die Hölderlins, nicht das geringste Echo gefunden. Der von Herder geöffnete Raum für das eingedeutschte Fremde, wenigstens ein Stück weit Inkommensurable, wäre unbetreten geblieben.
Fehlende Vernetzung
Zwar stimmt es, dass unser simples und oft verzerrtes Bild der orientalischen Dichtung auf diese Epoche zurückgeht. Aber verantwortlich dafür, dass sich dieses Bild nicht gewandelt und ausdifferenziert hat wie beispielsweise dasjenige Shakespeares, sind die Generationen von Literaten, Übersetzern und Orientalisten, die später kamen und das nicht leisteten, was die ersten Übersetzer so auszeichnete: auf der Höhe ihrer Zeit und der lyrischen Sprache ihrer Gegenwart zu sein.
Wenn man Hafis in den Sturm und Drang oder die Romantik übersetzen kann, kann man ihn ebenso gut in den Expressionismus oder in die Neue Sachlichkeit übersetzen. Hafis ist ein Dichter, der auch wunderbar zu den Wiener Avantgarden gepasst hätte, ja dessen Sprachspiele im Deutschen am ehesten vergleichbar sind mit denen von H. C. Artmann oder Reinhard Priessnitz. Dass es zu keiner solchen Rezeption kam, hat zum einen den banalen Grund, dass keiner unserer Nachkriegslyriker einer Islamsprache mächtig war. Zum anderen hat keiner unserer Orientalisten die Lyrik unserer Zeit und Muttersprache auch nur ansatzweise rezipiert, geschweige denn sich von ihr inspirieren lassen.
Dafür, sich an den von Klassik und Romantik geprägten Vorläufern zu orientieren, wie es etwa bei Annemarie Schimmel und Johann Christoph Bürgel überdeutlich ist, hatten diese Übersetzer und Orientalisten immerhin einen guten Grund. Die damals entwickelte übersetzerische Form ist diejenige gewesen, in der ihnen die orientalische Poesie auf Deutsch begegnete; und sie war es auch, in der ihnen Poesie überhaupt begegnete. Und berechtigte nicht die formale Strenge der orientalischen Dichtung dazu, die Anlehnung an unsere eigenen Klassiker und Meister der Form zu suchen, machte es das Alter dieser Dichtung nicht nötig, sie auch in eine ältere klassische Sprache zu übersetzen?
Freilich ist die vermeintlich klassische Sprache, in die bis heute die ältere orientalische Lyrik übersetzt wird, zumeist nur ein lebloser Klon der Sprache unserer Klassik und Romantik. Zu welchen Verirrungen das führt, belegte vor wenigen Jahren eine Anthologie orientalischer Liebeslyrik, deren „blumiger“ Geschmack sich schon im Titel ausdrückt: Gold auf Lapislazuli.
Niemandem ist es übelzunehmen, wenn er angesichts solcher Anthologien glaubt, sich für orientalische Literatur nicht interessieren zu müssen. Dass moderne Übersetzungen der klassischen islamischen Poesie möglich sind, hat die englisch- und französischsprachige Welt längst bewiesen. Wenn es dagegen hierzulande keine zeitgemäßen und repräsentativen Übersetzungen dieser Poesie mehr gibt, dürfte dies nicht nur an Übersetzern, Orientalisten und kleinmütigen Verlagen liegen: Es zeigt uns auch, wie schlecht heute, anders als zur Zeit unserer Klassik, Philologie, lebendige Literatur und geistige Neugier in unserem Land miteinander vernetzt sind.
Stefan Weidner
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Redaktion: Arian Fariborz/ Qantara.de