Koloniale Strategien der anderen Art
Das Studium von Handelsbilanzen allein reiche nicht aus, um die deutsche Kolonialpolitik im südlichen und östlichen Mittelmeerraum zu verstehen. Ebenso aussagekräftig seien die Romane Karl Mays, die das Orient-Bild der deutschen Öffentlichkeit wesentlich beeinflussten.
Dies ist – in zugespitzter Form – die These, die der Historiker Malte Fuhrmann in seinem kürzlich erschienenen Buch "Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918" vorstellt.
Mit gutem Recht ist der Geschichte des deutschen Kolonialismus in den vergangenen Jahren ein größeres Interesse zu Teil geworden. Ein Schwerpunkt lag dabei auf deutschen Bestrebungen in Afrika. Fuhrmanns Untersuchung bietet hier wichtige Ergänzungen.
Deutscher Wertekolonialismus
Bis heute spielen deutsche Ambitionen in der Geschichtsschreibung des Mittelmeerraums nur eine untergeordnete Rolle. Deutschland, so lautet eine gängige Einschätzung, genieße in den Ländern des südlichen Mittelmeerraums ein hohes Ansehen, weil es – anders als Großbritannien, Frankreich oder Italien – in der Vergangenheit keine kolonialen Projekte in dieser Region verfolgt habe.
Am Beispiel der westanatolischen Stadt Smyrna, dem heutigen Izmir, und dem makedonischen Saloniki am westlichen Ufer der Ägäis dokumentiert Fuhrmann, dass eine solche Sichtweise zu kurz greift.
Die Geschichte des Kolonialismus besteht nicht allein aus militärischen und wirtschaftlichen Unternehmungen, sie umfasst auch "moralische Eroberungen", mit denen der Einfluss der europäischen Staaten auf kulturellem Wege auszudehnen versucht wurde. Kolonialismus bezeichnet damit nicht nur eine gewaltsame Ausweitung des eigenen Herrschaftsbereiches, sondern auch die nicht-militärische Durchdringung fremder Regionen.
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die griechischen Sezessionskriege die Inspiration vieler Menschen in den deutschen Ländern angeregt. Südosteuropa, so schien es, bot eine Alternative zur Emigration nach Amerika. Durch eine gezielte deutsche Besiedelung und die Erschließung der Länder versprach man sich die Schaffung eines wichtigen Vorpostens gegen das Osmanische Reich.
Obgleich diese Überlegungen mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 zunächst zusätzlichen Auftrieb erfuhren, setzte das Desinteresse von Reichskanzler Bismarck dem "Drang nach Südosten" enge Grenzen. Der zunehmende Mangel an Arbeitskräften im Reich, der den Auswanderungstrend letztlich umkehrte, tat ein Übriges, um das Interesse an Siedlungsprojekten auch im Mittelmeerraum zu untergraben.
Hellenismus als deutsches Kulturerbe
Dennoch blieb das einstige Interesse nicht folgenlos. Am Beispiel der Ausgrabungen in der Ägäisregion verdeutlicht Fuhrmann die Bedeutung dieser Region für die Identitätsdebatten innerhalb des Reiches. Neben der Anhäufung von archäologischen Sammlungen, die den eigenen Ruhm bekräftigten, boten die antiken Funde die Möglichkeit, das Reich als "ideellen Erben Hellas" zu inszenieren.
Während die archäologischen Expeditionen und die Begeisterung für die Antike dabei halfen, eine deutsche Identität zu stiften, zielten die religiösen und säkularen Missionsprojekte auf eine tiefgreifende kulturelle Umformung im griechischen und kleinasiatischen Raum ab. Die Errichtung von Schulen und Krankenhäusern dienten hier als wichtigstes Mittel, die Menschen an Deutschland zu binden.
Die Inhalte solcher Missionen waren dabei nicht unumstritten, sondern spiegelten in vielerlei Hinsicht die ideologischen Veränderungen in Deutschland selbst wider.
Nach dem Scheitern der "Evangelisierung des Orients", die seit der Gründung eines Diakonissenhauses in Smyrna 1851 auch von Preußen vorangetrieben worden war, verfolgte das Reich unter Bismarck schließlich eine regionale Strategie der "Stärkung des Deutschtums".
Die materielle und ideologische Stärkung der deutschen Gemeinschaften hatte dabei nicht so sehr eine Unterwerfung der Umgebung zum Ziel, sondern eine friedliche Durchdringung, die die Durchsetzung der Interessen des Reiches mit Hilfe der ansässigen Deutschen erleichtern würde.
Deutschland als Zivilisationsbringer
Der sich anbahnende Zerfall des Osmanischen Reiches begünstigte schließlich einen erneuten Wandel der deutschen kolonialen Strategie: An die Stelle einer Stärkung der deutschen Gemeinden trat in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine "Kolonialisierung der höheren Stände", über die man sich einen langfristigen Einfluss des Deutschen Reiches zu sichern erhoffte.
Die lang währenden Verbindungen und die Germanophilie führender osmanischer Militärs, die die Zeit des Krieges überdauerten, stehen für die bleibenden Auswirkungen eines solchen Umdenkens in der deutschen Politik gegenüber dem Osmanischen Reich.
Fuhrmanns Darstellung der zahlreichen Projekte, die seit den 1850er Jahren von deutscher Seite in der Region der Ägäis verfolgt wurden, macht die historischen Hintergründe dieser sich verändernden Strategien deutlich. Der Mangel an direkter politischer und militärischer Kontrolle über Länder im Mittelmeerraum erwies sich dabei keineswegs nur als strategische Schwäche.
Aus heutiger Perspektive war es gerade der nicht-militärische Charakter der deutschen Strategie, der den guten Ruf der deutsch-osmanischen Beziehungen begründet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Mittel sah sich schließlich auch das Deutsche Reich als Träger einer "zivilisatorischen Mission", welche es in der Region des Mittelmeerraums gegenüber seinen europäischen Konkurrenten durchzusetzen galt.
Götz Nordbruch
© Qantara.de 2006
Malte Fuhrmann: Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1951-1918 (Frankfurt: Campus, 2006) 419 S.
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