Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten?
Während seiner Reise in den Iran im Februar diesen Jahres lobte der Hamas-Führer Khaled Mashal die Unterstützung, die die iranische Regierung seiner Organisation während des Gaza-Konflikts zukommen ließ – was als weiteres Indiz für die immer festeren Bande zwischen der sunnitischen Islamistengruppe, die von den USA als Terrorgruppe eingeschätzt wird, und dem schiitischen Regime in Teheran gewertet werden darf.
Mashals Statement erfolgte nur kurz nachdem das amerikanische Finanzministerium bekannt gegeben hatte, dass verschiedene (sunnitische) Al-Qaida-Führer und -Einsatzkräfte vom Iran aus aktiv sind. Diese jüngsten Beispiele einer Kooperation zwischen Sunniten und Schiiten werfen neue Fragen darüber auf, ob der Iran auch seine Beziehungen zur ägyptischen Muslimbruderschaft verbessern kann.
Auch wenn eine solche Annäherung unwahrscheinlich erscheint, lehrt die Geschichte, dass sie keineswegs unmöglich sein muss. Seit vielen Jahren pflegt der Iran informelle Kontakte zur Muslimbruderschaft und der schiitische Islam dürfte unter ägyptischen Sunniten sicher mehr Zuspruch finden als bei Sunniten in anderen islamischen Ländern. Auch die scharfe Kritik der iranischen Regierung am ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak wird unter den von Kairo bekämpften Radikalen auf viel Sympathie stoßen.
Gelänge es dem Iran, seine Beziehungen zur Muslimbruderschaft zu festigen, würde der iranische Einfluss in der arabischen Welt beträchtlich wachsen und das neue Gewicht Teherans unter arabischen Radikalen würde zweifellos zu einer gefährlichen Entwicklung für die US-amerikanischen Interessen in der Region führen.
Kontakte zwischen dem Iran und sunnitischen Extremisten
Seit langem ist Ägypten besorgt über die Verbindung zwischen der ägyptischen Muslimbruderschaft und dem Iran, was sich mit der langen und engen Beziehung des Iran zur Hamas erklären lässt, ist letztere doch aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen. Der jüngste Konflikt im Gazastreifen dürfte das Misstrauen Kairos nur noch verstärkt haben. Unmissverständlich war die Art und Weise, in der der Iran die Hamas unterstützt hat; lautstark warf Teheran der ägyptischen Regierung Untätigkeit vor.
Der Hamas-Führer Khaled Mashal dankte dem Iran für seine Unterstützung und sagte, dass "das Volk Gazas ... schon immer die politische und spirituelle Unterstützung durch die Führer und das Volk des Iran geschätzt haben." Nach Angaben des iranischen Staatsfernsehens fügte Mashal hinzu: "Der Iran hat mit Sicherheit eine große Rolle beim Sieg des Volkes von Gaza gespielt und ist ein Partner bei diesem Sieg gewesen."
Auch mit anderen sunnitischen Extremisten schmiedete der Iran festere Kontakte. Laut Berichten der New York Times, die sich wiederum auf saudische Regierungskreise berufen, lebt der Führer von "al-Qaida in der Golfregion", Abdullah al-Qaraqi, im Iran und kann sich dort nicht nur frei bewegen, sondern verfügt überdies noch über rund 100 Saudis, die für ihn arbeiten.
Das US-amerikanische Finanzministerium meldete in seiner jüngsten "Enforcement Action", dass Saad Bin Laden, Sohn Osama Bin Ladens, zwar Anfang 2003 von iranischen Polizeikräften festgenommen wurde, dass man aber "seit September 2008 annehmen kann, dass Saad Bin Laden nicht mehr in iranischem Gewahrsam ist." Laut Michael McConnell, dem Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, befindet sich Saad Bin Laden aller Wahrscheinlichkeit nach in Pakistan.
Der vorrevolutionäre Iran und die Muslimbruderschaft
Auch wenn die Muslimbruderschaft und der Iran über keine formellen organisatorischen Bindungen verfügen, kam der Bruderschaft eine große Bedeutung für die islamische Erweckungsbewegung im Iran zu, eine Bewegung, die für den Islam nicht nur als Religion wirbt, sondern vor allem als Ideologie und für seine Stärkung in allen Aspekten des täglichen Lebens eintrat, ob in politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht.
Mujtaba Mirlowhi, auch bekannt als Navvab Safavi (1924-1955), war ein junger iranischer Geistlicher, der in den frühen 1940er Jahren die Society of Islam Devotees (SID), die Gesellschaft islamischer Gläubiger, gründete, welche eine große Rolle bei der Vermittlung des schiitischen Fundamentalismus im Iran gegenüber fundamentalistischen Bewegungen in anderen Ländern spielte.
Wie die Begründer der islamischen Erneuerungsbewegung in Ägypten, vertrat auch die SID die Ansicht, dass – wenn sie die Übermacht des Westens herausfordern wollten – Muslime die innerislamische Sektiererei bekämpfen und den sunnitisch-schiitischen Konflikt ausräumen müssten, um eine gemeinsame muslimische Front zu bilden.
Auf Einladung von Sayyid Qutb, dem wohl bedeutendsten Vordenker des Islamismus im 20. Jahrhundert und damals prominentester Intellektueller der Muslimbruderschaft, reiste Navvab Safavi 1954 nach Jordanien und Ägypten, um die Führer der Muslimbruderschaft zu treffen. Sie waren es dann auch, die sein Interesse für die Sache der Palästinenser weckten. Zuvor hatte die palästinensische Frage unter den iranischen Geistlichen, (linken) säkularen Intellektuellen und Aktivisten kaum eine Rolle gespielt.
Nach Safavis Rückkehr in den Iran startete er eine Kampagne für die Palästinenser und es gelang ihm, die Zusicherung von 5000 Freiwilligen zu erhalten, in die palästinensischen Gebiete zu gehen und dort gegen die Juden zu kämpfen.
Vielleicht noch wichtiger aber ist etwas, das wir der kurzen Autobiografie des gegenwärtigen Obersten Führers der Islamischen Republik Iran, Ayatollah Ali Khamenei, entnehmen können: Darin verrät er, dass es Navvab Safavi war, der bei einem Treffen in Mashhad, Iran, sein Interesse für Politik geweckt habe. Noch vor der Islamischen Revolution im Jahr 1979 übersetzte Khamenei zwei Bücher von Sayyid Qutb, al-Mustaqbal li hadha al-Din (Die Zukunft dieser Religion) and al-Islam wa Mushkelat al-Hadharah (Der Islam und die Probleme der Zivilisation).
Die Islamische Revolution in den Augen der Bruderschaft
Die ägyptische Muslimbruderschaft begrüßte, wenn auch zurückhaltend, die von Ayatollah Khomeini geführte Islamische Revolution im Iran, mag sie ihnen doch Hoffnung gemacht haben, auch die eigene säkulare Regierung einmal ablösen zu können. Nach der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat durch einen islamischen Radikalen im Jahr 1981 war die Muslimbruderschaft dann allerdings gezwungen, in Bezug auf die Islamische Republik eine vorsichtige Haltung einzunehmen, zumindest in der Öffentlichkeit.
Im Januar 1982 sagte der damalige Führer der Muslimbruderschaft, Umar at-Tilimsânî, dem ägyptischen Wochenmagazin al-Msuwwar: "Wir unterstützten ihn [Khomeini] politisch, weil sich ein unterdrücktes Volk von seinem Unterdrücker befreien und seine Freiheit wiedererlangen konnte; vom religiösen Standpunkt aber ist die Sunna die eine Sache, die Schia eine ganz andere."
Die Muslimbruderschaft fuhr jedoch unbeirrt fort, die Spannungen zwischen den muslimischen Glaubensrichtungen zu geißeln, da der Jihad gegen die korrupten Herrscher und den Westen die Einheit der Muslime erfordere.
1985 schrieb dann sogar auch at-Tilimsânî im ägyptischen Magazin al-Dawa, dass "die Übereinstimmungen zwischen den Schiiten und Sunniten nun eine dringende Herausforderung für die Juristen darstellt." Und er fügt hinzu, dass "die Kontakte zwischen der Muslimbruderschaft und [den iranischen Geistlichen] nicht entstanden sind, um die Schiiten zum sunnitischen Islam zu bekehren; vielmehr besteht die wichtigste Aufgabe darin, die unterschiedlichen Richtungen des Islam so weit es geht in Übereinstimmung zu bringen."
In anderen Fragen kooperierten die Bruderschaft und der Iran noch offener. 1988 beispielsweise, am Ende des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak, kamen die Iraner dem Wunsch Scheich Muhammad Ghazzalis, des Führers der Muslimbruderschaft, nach, einseitig die ägyptischen Kriegsgefangenen freizulassen, die an der Seite Iraks gegen den Iran gekämpft hatten.
Erst kürzlich, am 28. Januar, sagte Muhammad Mahdi Akef, aktueller Führer der Muslimbruderschaft der Nachrichtenagentur Mehr: "Die Muslimbruderschaft unterstützt die Ideen und Gedanken der Gründer der Islamischen Republik." Er fügte hinzu: "[Ayatollah] Khomeinis Idee war es, in Bezug auf die palästinensische Frage, dass die Muslimbruderschaft fortfährt, gegen die Besatzung zu kämpfen."
Ägypten unter den Schiiten: eine wache Erinnerung
Ägypter sind gegenüber der Schia empfänglicher und aufgeschlossener als die Sunniten anderer arabischer Länder. Ein Grund ist die Fatimidendynastie, die im 10. Jahrhundert in Ägypten als Ableger der Ismailiten gegründet wurde. Die Dynastie spielte eine herausragende Rolle bei der gegenseitigen kulturellen Befruchtung des Irans und Ägyptens. Die zwei Jahrhunderte unter der Herrschaft der Fatimiden markieren einen Höhepunkt der islamischen Zivilisation, und das in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung genauso wie in Hinsicht auf die kulturelle Prosperität. Sogar die Kunst des fatimidischen Ägypten wurde durch iranische Stile beeinflusst.
Die Epoche der Fatimiden hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei den Ägyptern und Spuren der schiitischen Herrscher, finden sich auch heute noch in der Offenheit der Ägypter gegenüber schiitischen Ritualen und Traditionen – eine Aufgeschlossenheit, die sich nirgendwo sonst in der sunnitischen Welt findet. Ägypter respektieren noch immer die Symbole, Zeichen und heiligen Orte dieser Zeit; so glauben sie beispielsweise, dass Husain ibn Ali, der dritte schiitische Imam, und seine Familie in Kairo und nicht im irakischen Kerbala begraben sind.
Nach Mekka und Medina sind deshalb die Gräber von Husain, seiner Schwester Sayyeda Zainab und seiner Tochter Assayeda Sakina für die sunnitischen Ägypter die heiligsten Orte. Wie die Schiiten feiern auch die Sunniten in Kairo jedes Jahr Ashura (die schiitische Erinnerung an den Tod Husains). Zudem wurde im Ägypten des 19. Jahrhunderts das Persische als Sprache der Literatur und Wissenschaft anerkannt, was sich unter anderem an den Persisch-sprachigen Zeitungen zeigt, die damals erhältlich waren.
Außer dem bereits erwähnten Einfluss der ägyptischen Islamisten auf die iranischen Geistlichen ist darauf hinzuweisen, dass es iranische Geistliche waren, die der islamische Erweckungsbewegung in Ägypten auf die Beine halfen. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist der im 19. Jahrhundert lebende Islamist Sayyid Jamal al-Din Asadabadi, auch bekannt als al-Afghani.
Als nämlich al-Afghani aus seinem Geburtsland Iran nach Ägypten kam, behauptete er, aus Afghanistan zu stammen, um als Sunnit durchzugehen. Seine Ideologie vertrat vehement die Einheit der Muslime und suchte in einem "authentischen Islam" die Antworten auf die Probleme der muslimischen Gesellschaften.
Ein Ergebnis dieser Geschichte ist sicherlich, dass die Schia in Ägypten auf größere Resonanz stößt, obwohl die Ägypter schon zur Zeit der Fatimiden in der Mehrheit Sunniten waren, so wie es noch heute der Fall ist.
Die Schia im heutigen Ägypten
In den letzten Jahren hat diese Resonanz der Schia ein wenig gelitten, da die ägyptische Regierung immer nervöser wird angesichts dessen, was sie als allgemeinen schiitischen Aufschwung in der Region ansieht. Als Reaktion starteten die Regierung und die staatlichen Medien eine Kampagne gegen die Schia und schiitische Symbole. Im November 2005 stellte der Präsident Hosni Mubarak fest: "Die meisten Schiiten sind eher dem Iran gegenüber loyal als ihrer eigenen Regierung."
Mubaraks Kommentar provozierte einige schiitische Demonstrationen, darunter eine mit mehreren Tausend Teilnehmern in Nadschaf, einer heiligen Stadt der Schiiten im Irak. Später korrigierte der ägyptische Präsident seine Aussage dahingehend, dass er sich nur auf die Sympathie der Schiiten gegenüber der religiösen, nicht aber der politischen Ausrichtung des Iran bezog.
Bei verschiedenen Gelegenheiten warnte der prominente ägyptische Geistliche Scheich Yusuf al-Qaradawi vor der "Flut der Schia" und den missionarischen Aktivitäten der Schiiten und der iranischen Regierung, besonders in Ägypten. Dabei wies er darauf hin, dass "die zunehmende Infiltration der Schia in Ägypten zu einem Bürgerkrieg ähnlich dem im Irak führen könnte."
Die ägyptische Regierung unternahm einige Anstrengungen, einflussreiche Geistliche und die Fakultät der al-Azhar-Universität gegen die Muslimbruderschaft zu mobilisieren, um gegen die "Flut der Schia" vorzugehen.
Es gibt keine verlässlichen Statistiken über die Zahl der Schiiten in Ägypten. Wegen des Drucks der Regierung, vermeiden es die meisten Schiiten, sich öffentlich zu ihrem Glauben zu bekennen. Einige westliche und ägyptische Quellen (wie das Ibn Khaldun-Forschungsinstitut) gehen jedoch davon aus, dass die Schiiten weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung (also etwa 657.000) Gläubige ausmachen. Muhammad al-Darini, ein bekannter Sunnit, der zur Schia konvertiert ist, schätzt die Zahl auf 1,5 Millionen.
Al-Darini weist auch darauf hin, dass die ägyptischen Schiiten zu den "Zwölfer-Schiiten" (oder Imamiten; diese sehen Ali ibn Abi Talib als rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Mohammed) gehören, also zu der Form, die auch im Iran vorherrschend ist. Dennoch bestreitet al-Darini jede Verbindung zwischen der schiitischen Gemeinde und der iranischen Regierung.
"Der Iran übt keinerlei Einfluss auf uns aus", sagt al-Darini. "Zuweilen kritisieren uns Iraner sogar für unsere Überzeugungen und Aussagen. Jeder sollte wissen, dass die Schia keine originär iranische [Glaubensrichtung] ist, sondern eine arabische, während die [vier traditionellen] sunnitischen Schulen aus dem Iran stammen."
Ein Teil der Attraktion, die im modernen Ägypten von der Schia ausgeht, liegt also eher im Politischen und weniger in der Doktrin als solcher begründet. Einige junge Ägypter sehen die Konversion zur Schia als Möglichkeit, gegen die Regierung zu protestieren – genauso wie Tausende iranische Schiiten zum Teil als Reaktion gegen die schiitische Ausrichtung ihrer Regierung zu verschiedenen anderen Glauben konvertieren.
Der Iran: Wachsender Einfluss in der arabischen Welt?
Während ein nachhaltiger Durchbruch in den Beziehungen zwischen der ägyptischen Muslimbruderschaft und Teheran noch immer unwahrscheinlich ist, wären die Konsequenzen, die eine solche Entwicklung für die USA hätte, sehr besorgniserregend. Der Iran versucht weiterhin, seinen Einfluss in der Golfregion und darüber hinaus auszudehnen; Verbindungen zur stärksten Oppositionskraft im Nahen Osten wären dabei ein wichtiger Schritt.
Die weit zurückreichenden und sich noch immer verfestigenden Bande zwischen dem Iran und der Hamas, sowie ein Blick auf die Geschichte, machen deutlich, dass die US-Strategen die Entwicklung sehr genau beobachten sollten.
Mehdi Khalaji
© The Washington Institute for Near East Policy 2009
Mehdi Khalaji ist Forscher am Washington Institute und beschäftigt sich vor allem mit der Rolle der Politik im modernen schiitischen Klerikalismus im Iran und im Irak.
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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