Aus Nasrallahs Schatten zum neuen Chef
Es kommt wenig überraschend, dass am Dienstag der Mann mit dem weißen Turban und grauen Bart zum neuen Generalsekretär der Hisbollah ernannt worden ist. Seit Jahrzehnten schon ist Naim Qassem eines der öffentlichen Gesichter der Hisbollah, deren politischen Arm er im libanesischen Parlament in Beirut anführte. Qassem steht vor allem für eines: für Kontinuität.
Seit über einem Monat hat der 71-Jährige nun schon kommissarisch die Geschäfte der Hisbollah geführt, nachdem sein Vorgänger Hassan Nasrallah bei einem massiven israelischen Angriff im Süden Beiruts am 27. September getötet worden war.
Qassem war langjähriger Stellvertreter Nasrallahs und sollte laut den Statuten der Organisation so lange in diesem kommissarischen Amt bleiben, bis ein neuer Chef auserkoren wird.
Eigentlich war nach dem Tod Nasrallahs damit gerechnet worden, dass dessen Cousin Hashem Safieddin diesen Posten bekommt. Doch auch der wurde bei einem israelischen Angriff wenige Tage später getötet. Also fiel die Wahl auf den kommissarischen Leiter Qassem.
Infiltriert, aber strategisch überlegen
Die Hisbollah mag von Israel unterwandert sein, aber besiegt ist sie noch lange nicht. Ihre wirklich schlagkräftigen Raketen könnten erst noch zum Einsatz kommen. Wer verhindern will, dass die Situation völlig außer Kontrolle gerät, muss den Blick auf Gaza richten.
Gesprächspartner westlicher Medien
Qassem ist wie Nasrallah einer der Veteranen der Organisation und war einer ihrer Mitbegründer im Jahr 1982. Schon als 1991 Abbas al-Mussawi, der später bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, das Amt des Generalsekretärs übernahm, wurde Qassem zum stellvertretenden Chef ernannt – ein Amt, das er unter Nasrallah behielt und insgesamt 33 Jahre bekleiden sollte. In diesem Sinne ist Qassem eine der Konstanten in der Hisbollah.
Doch während Nasrallah aus Sicherheitsgründen seit dem Libanon-Krieg 2006 nur noch über Videoleinwand in der Öffentlichkeit auftrat, war Qassem lange Jahre der Hisbollah-Mann zum Anfassen. Seit 1992 fungierte er als eine Art Fraktionsvorsitzender der Hisbollah, die damals das erste Mal auch bei einer Parlamentswahl antrat und die seitdem ohne Unterbrechung als eine der stärksten Parteien mit unterschiedlichsten Koalitionspartnern im Abgeordnetenhaus in Beirut sitzt.
In dieser Funktion gab Qassem auch immer wieder westlichen Medien und Nachrichtenagenturen Interviews. Zuletzt sprach er mit der US-Nachrichten-Agentur AP am 3. Juli dieses Jahres, also vor der jüngsten Eskalation zwischen der Hisbollah und Israel im September, aber schon während der auf den Südlibanon und Nordisrael beschränkten Kampfhandlungen, die am 8. Oktober letzten Jahren begannen.
Das Gespräch mit AP fand in einem der politischen Büros der Hisbollah im Süden Beiruts statt, dessen Gebäude inzwischen zerstört ist. Damals erklärte Qassem, ein Waffenstillstand an der israelisch-libanesischen Grenze sei nur möglich sei, wenn auch die Waffen im Gazastreifen schweigen.
Seit dem Tod Nasrallahs ist Qassem noch dreimal, aber auch nur noch per Video in der Öffentlichkeit aufgetreten. Das letzte Mal erklärte er, er unterstütze die Verhandlungen der libanesischen Regierung bei Waffenstillstandsverhandlungen, ohne explizit über einen Waffenstillstand in Gaza zu sprechen.
Zugleich gab sich Qassem trotzig und erklärte, dass es in dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel auch darum gehe, „wer zuerst schreit, und das wird nicht die Hisbollah sein“. Er betonte auch, dass die militärischen Kapazitäten seiner Organisation intakt seien und Israel „schmerzhafte Schläge“ zufügen könnten.
Groß geworden in der Amal-Bewegung
Qassem, der 1953 in Beirut geboren wurde und sechs Kinder hat, studierte ursprünglich Chemie und Französisch an der Libanesischen Universität in der Hauptstadt. Politisch aktiv wurde er 1974 in der damals gegründeten schiitischen Amal-Bewegung, bevor er diese nach der Revolution im Iran im Jahr 1979 verließ. Er setzte sein schiitisches Seminarstudium fort und begann, in mehreren Moscheen in Süd-Beirut zu predigen.
Bei der Gründung der Hisbollah 1982 war er einer der Männer der ersten Stunde in der neuen Organisation, die sich vor allem gegen die israelische Besatzung des Südlibanon wendete. In deren Rängen stieg er auf bis zum Amt des Stellvertreters des Generalsekretärs 1991. Das öffentliche Charisma Nasrallahs erreichte er nie und blieb stets in dessen Schatten.
Die israelische Regierung zeichnet von Qassem das Bild eines Mannes, dessen Todesurteil bereits gefällt wurde. Im arabischen X-Account der israelischen Regierung heißt es: „Seine Amtszeit könnte die kürzeste in der Geschichte der Terrororganisation sein, wenn er dem Schicksal seiner Vorgänger Hassan Nasrallah und Hashem Safieddin folgt.“
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