Der pan-islamischen Solidarität verpflichtet
Pakistan nimmt den israelisch-palästinensischen Konflikt und den Krieg in Gaza durch drei verschiedene Linsen wahr: die staatliche, die gesellschaftliche und die systemische. Auf staatlicher Ebene nimmt Pakistan eine strikte Haltung ein, indem es Israel nicht anerkennt und darauf besteht, dass eine Zweistaatenlösung Voraussetzung für Frieden ist. Diese Haltung wird auch durch pakistanische Reisepässe unterstrichen, die ausdrücklich für Reisen in alle Länder außer Israel gültig sind.
Die pakistanische Regierung betrachtet den andauernden Konflikt in Gaza als einen Akt des Völkermords durch Israel und bringt dieses Thema immer wieder in internationalen Foren zur Sprache. In den Angriffen der Hamas sieht Pakistan eine Reaktion auf die Unterwerfung der Palästinenser durch Israel und unterstützt die Auffassung, dass sie das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen ihre Unterdrückung haben.
Das westlich von Indien gelegene Land zieht Parallelen zwischen der Palästina-Frage und dem Kaschmir-Konflikt, wo es einen ähnlichen Kampf für Freiheit und gegen Unterdrückung sieht. Dieser Vergleich verstärkt Pakistans unerschütterliche Unterstützung für die palästinensische Sache, da beide Konflikte als Teil eines umfassenden Kampfes gegen Ungerechtigkeit betrachtet werden.
Die Nation an der Schnittstelle zwischen Südasien und dem Nahen Osten wurde auch in der internationalen Diplomatie an den Rand gedrängt, insbesondere, als sie von einer Delegation arabischer und indonesischer Außenminister ausgeschlossen wurde, die den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats einen Besuch abstatteten, um einen sofortigen Stopp der militärischen Eskalation in Gaza zu fordern.
Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) schloss Pakistan von dieser Mission aus, wahrscheinlich aus Sorge, dass Pakistan die Kaschmir-Frage neben der Palästina-Frage zur Sprache bringen könnte. Dieser Ausschluss unterstreicht die Wahrnehmung, dass die OIC trotz des ungeklärten Status von Kaschmir ihren Fokus verlagert hat, was Pakistan in eine schwierige Lage bringt.
Innenpolitisch fühlt sich Pakistan der palästinensischen Sache stark verpflichtet, da sie in der Bevölkerung auf große Zustimmung stößt und dem übergeordneten Ziel der Regierung entspricht, in der islamischen Welt relevant zu bleiben. Mit seinem Engagement für Palästina spiegelt Pakistan nicht nur die Stimmung in der Bevölkerung wider, sondern bekräftigt auch sein Engagement für die panislamische Solidarität, auch wenn die Unterstützung der OIC für Kaschmir abnimmt.
Sich verändernde Dynamiken in der islamischen Welt
Auf gesellschaftlicher Ebene hat der jüngste Gaza-Konflikt tiefgreifende Auswirkungen auf die pakistanische Gesellschaft, in der es eine weit verbreitete Empathie für das palästinensische Volk und eine scharfe Verurteilung der israelischen Aktionen gibt, die als Verstöße gegen das Völkerrecht angesehen werden. Die Sache der Palästinenser wird in Pakistan hochgeschätzt, aber die sich verändernde Dynamik innerhalb der islamischen Welt wurde weder von der Regierung noch von anderen islamischen Staaten effektiv kommuniziert.
Die militärische Gewalt in Gaza, wo zehntausende Menschen getötet wurden, hat alle Bevölkerungsgruppen in Pakistan erreicht und die öffentliche Meinung in allen Altersgruppen und sozialen Schichten beeinflusst. Vor allem die pakistanische Jugend hat sich ihre Meinung durch Inhalte auf Social-Media-Plattformen wie Instagram, Twitter und Facebook gebildet, während ältere Generationen stärker auf das Fernsehen angewiesen sind.
Die Bilder von Angriffen auf Schulen, Krankenhäuser und Zivilisten haben das Interesse an der palästinensischen Sache neu entfacht, die wie die Kaschmir-Frage oft aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet, bis ein wichtiges Ereignis eintritt. In Pakistan herrscht ein Gefühl der Ohnmacht und des Verlusts von Rechtsstaatlichkeit vor, während die anhaltenden Konflikte ungelöst andauern.
Vom internationalen System im Stich gelassen
Auf systemischer Ebene stellt die südasiatische Nation fest, dass das internationale System nach dem Kalten Krieg die ungelösten Probleme aus der Zeit der Entkolonialisierung, insbesondere in der islamischen Welt, nicht angegangen ist. Pakistan, das seine Unabhängigkeit auf religiöser Grundlage erlangte, sieht sich als Teil einer größeren islamischen Gemeinschaft, die vom internationalen System im Stich gelassen wurde. Die vorherrschende Meinung ist, dass dieses System nicht in der Lage war, die kritischen Probleme in der islamischen Welt zu lösen, während interne Spaltungen innerhalb der islamischen Welt diese Herausforderungen weiter verschärft haben.
Viele Pakistaner haben das Gefühl, dass es den islamischen Ländern an politischem Willen und Fähigkeiten mangelt, diese Probleme zu lösen, da ihre politischen Systeme oft nicht auf Rechenschaftspflicht und Transparenz basieren, sondern ihre Legitimität von externen Mächten und nicht von der Bevölkerung beziehen.
Die jüngsten Entwicklungen in Europa haben sowohl die Regierungen als auch große Teile der Bevölkerung als Reaktion auf die schweren Menschenrechtsverletzungen in Gaza mobilisiert. Die Vereinten Nationen, die Europäische Union und andere internationale Foren haben zu Ruhe und Zurückhaltung aufgerufen. Europa wird inmitten der Turbulenzen in der arabischen Welt als Bastion der Stabilität wahrgenommen, was seine Rolle in der Krise stärkt.
Viele in der islamischen Welt, einschließlich Pakistan, sind der Meinung, dass Europa eine unabhängige Position im israelisch-palästinensischen Konflikt einnehmen sollte, insbesondere in Bezug auf den Gazakrieg. Es besteht der Eindruck, dass die regelbasierte internationale Ordnung sich verschlechtert hat und dass der Konflikt in Gaza von harter Macht und militärischer Stärke angetrieben wird. Europa ist daher gefordert, sich auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene eigenständig mit der islamischen Welt auseinanderzusetzen.
Junge Menschen in Pakistan und der muslimischen Welt hinterfragen zunehmend die Rolle Europas beim Einsatz für Frieden und Stabilität in der Welt. Die europäischen Botschaften in diesen Regionen sollten aktiv mit jungen Menschen in Kontakt treten, um über Europas globale Strategie für die arabische Welt zu diskutieren. Da Europa versucht, seinen Einfluss in einer polarisierten, multipolaren Welt zu stärken, ist es von entscheidender Bedeutung, die auf Regeln basierende Ordnung aufrechtzuerhalten.
Die Proteste an europäischen und amerikanischen Universitäten spiegeln die Werte wider, die den Studierenden vermittelt werden. Die anschließende Enttäuschung darüber, dass die Regierungen diese Werte kompromittieren, hat wiederum muslimische und pakistanische Jugendliche in die Lage versetzt, ihre Anliegen zu hinterfragen und zu artikulieren.
Studierende an westliche Universitäten bringen
Das europäische Erasmus-Mundus-Programm, das pakistanische Studierende für Masterstudiengänge an westliche Universitäten bringt, hat die Wahrnehmung Europas unter pakistanischen Jugendlichen positiv beeinflusst. Die europäische soft power könnte jedoch schwinden, wenn dem Dialog mit jungen Menschen an der Basis keine Priorität eingeräumt wird. Junge Menschen, die eine kritische Einstellung zu globalen Problemen entwickelt haben, setzen Vertrauen in die Regierungen.
Um sicherzustellen, dass künftige Generationen die Bedeutung des Völkerrechts verstehen, müssen seine Prinzipien klar dargelegt werden. Wenn Institutionen wie der Internationale Gerichtshof (IGH) und der UN-Sicherheitsrat nur als Diskussionsplattformen wahrgenommen werden, könnten autoritäre Regime wie China und Russland diese Wahrnehmung ausnutzen, um den europäischen Einfluss unter jungen Menschen zu untergraben. Der Einfluss autoritärer Staaten in hybriden Demokratien wie Pakistan wird die Bemühungen Europas zur Förderung von Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechten zunichtemachen.
Pakistan und Europa müssen sich mit den Sorgen junger Menschen auseinandersetzen, die von ihren Regierungen und internationalen Institutionen enttäuscht sind. Es wächst die Überzeugung, dass nur harte Macht globale Probleme lösen kann und dass die regelbasierte Ordnung überholt ist. Dieser Gedanke darf in der Jugend nicht Fuß fassen, sonst werden militante Hardliner, die schon immer versucht haben, ungebildete Jugendliche zu rekrutieren, davon profitieren. Selbst gebildete Fachleute konnten das Schweigen der globalen Institutionen und ihre Wirksamkeit für den Weltfrieden nicht verstehen.
Quellen der Inspiration
Westliche Medien und Menschenrechtsorganisationen sind seit langem Inspirationsquellen für die nicht-westliche Welt, weil sie sich für Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit und eine freie Presse einsetzen. Während die Pakistaner diese Stimmen schätzen, gibt es Frustration über die als mangelnd empfundene Aufmerksamkeit Europas gegenüber Foren, die Israels unverhältnismäßige Gewaltanwendung anprangern. Dieses Misstrauen erfordert Dialog und Engagement, um die Herausforderungen anzugehen, mit denen Europa im Gaza-Konflikt konfrontiert ist.
Die Europäische Union und mehrere europäische Staaten unterhalten enge Beziehungen zu Pakistan. Da sich der Gaza-Konflikt seinem Ende nähert und der Wiederaufbau beginnt, sollte Europa Ressourcen bereitstellen, um die Menschen in Gaza zu unterstützen. Dieses Engagement muss effektiv kommuniziert und die Jugend über diese Entwicklungen informiert werden.
Europas Beiträge zum Wiederaufbau und zur Verteilung von Hilfsgütern in Gaza sind wichtig, haben aber bisher keine Wirkung gezeigt. Daher wird die EU aufgefordert, härtere Maßnahmen gegen Israel zu ergreifen, um die anhaltende Gewalt zu stoppen und den Weg für das Inkrafttreten des Völkerrechts zu ebnen, einschließlich des Wiederaufbaus und der Verbesserung der Lebensbedingungen der Palästinenser in Gaza.
Pakistan, Europa und die globalen Akteure müssen sich auf allen Ebenen engagieren, um die Fragen zu beantworten, die in der Hitze des Krieges nicht beantwortet werden konnten. Ich bin der Meinung, dass in dem Maße, wie Demokratie und Menschenrechte sowie Regeln zur Gewaltanwendung gepredigt werden, auch der Wert globaler Institutionen hervorgehoben werden muss.
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Qamar Cheema ist Geschäftsführer des Sanober Institute, einer „unparteiischen Plattform zur Förderung eines informierten Dialogs“ in Islamabad, Pakistan. Er ist ein bekannter akademischer und politischer Analyst. Cheema ist auf internationale Beziehungen und südasiatische Politik spezialisiert und bietet Einblicke in regionale Sicherheit und strategische Angelegenheiten. Darüber hinaus betreibt er einen YouTube-Kanal.