Alltagsbewältigung mit Ventilfunktion

Die Rituale der aus dem Westsudan stammenden marokkanischen Bruderschaft der Gnawa sind kaum bekannt. Andreas Kirchgäßner über eine Nacht, in der Kontakt zu Geistern aufgenommen und die Vereinigung mit Gott erfahren wurde.

Von Andreas Kirchgäßner

Seit Randy Weston, Jimmy Hendrix und Cat Stevens zu ihnen nach Südmarokko pilgerten, seit Bob Marley, Peter Gabriel, Carlos Santana mit ihnen musizierten, weiß die musikinteressierte Welt von den faszinierenden Basslinien und polyrhythmischen Drums der marokkanischen Bruderschaft der Ganwa.

Während die Marokkaner mit dem Wort "Gnawa" jedoch zunächst einen "Schwarzen" assoziiert, sind längst nicht mehr alle Gnawa schwarz. Durch Vermischung und Assimilation trifft man heute neben schwarzen Gnawa auch solche mit hellem Teint.

Gnawa ist keine Ethnie, sondern Zeugnis der kulturellen Beeinflussung Marokkos durch Westafrika. Und nirgendwo in Marokko ist der so genannte "Afrikanismus" so stark vertreten, wie in der südmarokkanischen Hafenstadt Essaouira.

Schmelztiegel Essaouira

Um das Jahr 1770 beauftragte Sultan Mohammed Ben Abdallah den französischen Baumeister Théodore Cornut damit, die Stadt Essaouira nach europäischem Vorbild zu entwerfen. Seeräuber hatten Cornut bei einer Kaperfahrt gefangen genommen und dem Sultan als Beute übergeben.

Mit seiner Hilfe baute er Essaouira zum ersten Handelsplatz seines Königsreiches aus, verband die Karawanen aus Timbouktou mit den Seehandelslinien nach Europa und in die neue Welt. Aus Afrika kamen nicht nur Elfenbein, Goldstaub und Straußenfedern, sondern auch Sklaven.

Zu seiner besten Zeit beherbergte Essaouira Handelsniederlassungen aus ganz Europa, siebzehn Konsulate und Tausende Juden, die beste Handelsbeziehungen in alle Welt garantierten.

In diesem Schmelztiegel organisierten sich die schwarzen Sklaven als Bruderschaft der Gnawa und vermengten ihre Kulte mit berberischen Einflüssen und der arabischen Tradition des Sufismus.

Lila, die Nacht der Trance

Um mehr darüber zu erfahren, suchen wir den Meister Abdellah Guinea auf. In der Dunkelheit tasten wir uns an der Wand entlang eine steile Treppe hinauf in seine Wohnung. Oben stehen wir im Blut. In der Tür hängt eine große geschlachtete Ziege. Das Blut haben sie auf dem Boden verspritzt. Einen Schluck getrunken haben sie davon auch.

Im Islam ist das ein Sakrileg. Aber die Gnawa müssen einige Tabus brechen, um in Verbindung mit den Geistern zu treten. In der folgenden Nacht erleben wir eine ihrer 12-stündigen Zeremonien, die sie Lila nennen.

Guinea und die übrigen Gnawa haben bunte Gewänder übergeworfen. In einer Prozession ziehen sie in ein extra gemietetes Haus. Dazu spielen sie die große Trommel "Tbel", die die bösen Geister vertreibt und Platz schafft für die Ankunft der Mlouk. Vorneweg gehen Frauen und Kinder mit Kerzen, Datteln und Milch. Gaben für die Geister.

Dann sitzen wir eng zusammen im kleinen Innenhof der Wohnung. Guinea ist mit seinem großen, dreisaitigen Gembri, einer Basslaute, der unangefochtene Lenker des Geschehens. Er stimmt die "Erinnerungen", "Auled Bambara" an. Dazu tanzen seine Begleiter das Leben der schwarzen Vorfahren nach. Mit einer imitierten Flinte zeigen sie die Jagd, das Sammeln, aber auch die Gefangennahme.

Tief in der Nacht werden große Platten Oliven mit Ziegenfleisch und Fladenbrot aufgetragen.

Die Reise zu den Geistern

Gestärkt beginnt die Nasha, die eigentliche Reise zu den Geistern.

Zu den Gebeten werden Räucherwerk und Kräuter verbrannt. In der Mitte tanzen Frauen vornüber gebeugt. Der Zeremonienmeister, der Moqadem, hat ihnen weiße Tücher übergeworfen. Die Tücher des Mlouk Abdelkadder Jilani, der die Pforten zur Geisterwelt öffnet.

Es folgen schwarze Tücher, die Farbe der Mimun, der Schwarzafrikaner. Neue Tänzerinnen erscheinen, vereinzelt auch junge Männer. Jetzt kommt das Blau, die Farbe des Meeres und des Propheten Moses.

Der erste Tänzer fällt. Man trägt ihn ins Vorzimmer, besprenkelt ihn mit Rosenwasser. Ein neues Lied. Eine neue Farbe. Rot. Sidi Hammou, der Schlachter. Der Moqadem hantiert im Tanz mit einem Messer. Schwer zu sehen, ob er sich wirklich verletzt.

Vorsänger und Chor im ewigen Wechsel. Die Gembri gibt die Basslinie. Die Krakebs, Metallkastagnetten, klirren. Grün, die Farbe des Propheten und seiner Nachkommen. Dann wieder die Farbe Schwarz der "Leute" des Waldes. Die Rhythmen ziehen an.

Therapie für Frauen

Die kleine Tanzfläche ist nun ganz in der Hand der Frauen. Die Farbe Gelb. Das Licht erlischt. Die Tücher fallen ab. Die langen Haare der Frauen fliegen vor und zurück. Nur die Kerzen brennen.

​​Lala Aischa und die dämonischen Geister sind da. Eine Frau fällt. Der Moqadem trägt sie hinaus. Die nächste fällt. Die offenen Haare, ekstatische Bewegungen, die Schreie, das alles ist voll knisternder Erotik.

Ringsum liegen Frauen auf Matratzen. In der Trance findet die Vereinigung mit Gott statt, in der Kranke geheilt und "Baraka", der Segen Gottes übermittelt wird.

Im Gegensatz zum 'offiziellen' Islam, der die politisch-religiöse Macht ausübt und von Männern dominiert wird, geht es im Gnawakult um Alltagsbewältigung.

Seine Anhänger - zu über 90 Prozent Frauen - bedienen sich magischer Praktiken, um Geister und Dämonen, die sie für ihr Leiden verantwortlich machen, zu beschwichtigen. So wird die religiöse Praxis für sie zu einem therapeutischen Akt mit starker Ventilfunktion.

Islamistische Kritik

Obwohl die Gnawa sich als fromme Muslime verstehen und in ihren Liedern immer wieder Koranverse rezitieren, sind sie vermehrt der Kritik des "politischen Islam" ausgesetzt.

Said, mein junger islamistischer Interviewpartner, versteigt sich in die Behauptung, Gnawa sei von Juden nach Essaouira gebracht worden.

Tatsächlich kennen die Gnawa schwarzafrikanische, berberische, muslimische, jüdische und vereinzelt sogar christliche Geister. Ihr souveräner Umgang mit diesen "Fremden" empfindet Said als Bedrohung.

"Steht etwa im Koran, dass zum Gebet gesungen, musiziert oder gar getanzt wird?", fragt er und beklagt schließlich den Verfall der Sitten, wenn die Jugend aus Marokko und Europa in engen Jeans und Miniröcken in Essaouira auftaucht, um die Gnawa zu hören.

Andreas Kirchgäßner

© Qantara.de 2007

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