Zweckbündnis gegen Erdoğan
Der im Jahr 2015 gegründete "Demokratische Rat Syriens" (SDC) ist der politische Arm der militärischen Dachorganisation "Demokratische Kräfte Syriens" (SDF), die den Nordosten Syriens kontrolliert. Zwar kämpften die kurdischen Streitkräfte während des siebenjährigen Bürgerkriegs wiederholt gegen das syrische Militär, doch offenbar setzt der SDC seit kurzem auf bessere Beziehungen zum Assad-Regime. Eine Delegation des SDC traf am 27. Juli 2018 auf Einladung der syrischen Regierung erstmals zu direkten Gesprächen in Damaskus ein.
Darüber hinaus gibt es weitere Anzeichen für eine politische Wende. Im Rahmen der laufenden Bemühungen um eine "demokratische" Lösung der Krise in Syrien kündigte der SDC vor einigen Wochen an, ein Büro in Damaskus zu eröffnen. Und die SDC-Delegation teilte am Tag vor ihrer Abreise in die syrische Hauptstadt mit, die kurdischen Streitkräfte seien bereit, sich jeder militärischen Operation der Regierungstruppen im nördlichen Gouvernement Idlib zur Rückeroberung des kurdischen Teils von Afrin anzuschließen. Afrin wurde im März 2018 von türkisch unterstützten Truppen besetzt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wollte damit eine Dominanz der Kurden an der südlichen Landesgrenze der Türkei verhindern.
Nordost-Syrien steht unter kurdischer Verwaltung, leidet allerdings unter den Auswirkungen der aktuellen türkischen Versuche, die Region zu destabilisieren, sowie unter den Folgen der ehemaligen Besetzung durch den Islamischen Staat (IS). Das als Rojava bekannte Gebiet umfasst etwa 27 Prozent des ehemaligen Hoheitsgebiets Syriens. Für Assad und den SDC gibt es daher eine pragmatische politische Logik für die Suche nach einer Lösung.
Vereinbarung zum beiderseitigen Nutzen
Sollte Assad, der aktuell etwa 58 Prozent des früheren Syriens kontrolliert, Rojava unter syrische Regierungsverwaltung bringen können, würde er etwa 85 Prozent des ursprünglichen syrischen Territoriums zurückgewinnen. Die kurdische Regierung in Rojava – seit 2012 bekannt als "Demokratische Föderation Nordsyrien" (DFNS) – strebt keine völlige Unabhängigkeit an, sondern ein gewisses Maß an Autonomie. Falls Assad die gewünschte Autonomie gewährt, würde ein Großteil des Territoriums wieder unter seine Regierungsgewalt fallen.
Das ist der kurdischen Autonomieregierung durchaus bewusst. Allerdings würde das Regime von Assad im Allgemeinen und Assad als Präsident im Besonderen erhebliche politische Unterstützung hinzugewinnen. Und Assad wird jede erdenkliche Unterstützung benötigen, wenn Russland und die UNO ihm im Rahmen eines Friedensabkommens eine Präsidentschaftswahl auferlegen. Von einer solchen Vereinbarung können also beide Seiten profitieren.
Die zwei Millionen Kurden in Syrien, die 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, strebten vor dem Bürgerkrieg lediglich eine gewisse Autonomie an, die ihnen allerdings stets verweigert blieb. Im Gegenteil: Unter dem Regime von Baschar al-Assad und seinem Vater Hafiz al-Assad erfuhren die Kurden in Syrien systematische Diskriminierung und Unterdrückung. Rund 300.000 Kurden blieb nicht nur die Staatsbürgerschaft verweigert, man beraubte sie auch ihrer Grundrechte. Gelegentliche Aufstände wurden umgehend niedergeschlagen.
Der innenpolitische Aufstand gegen das Assad-Regime im Jahr 2011 gab den Kurden ihre Chance. Während sich die Bürgerkriegsparteien in Syrien in einem Gewirr von separaten Konflikten verkeilten, bekämpften und besiegten die syrischen Kurden im Norden den IS und gewannen große Teile ihres Siedlungsgebiets zurück.
Der "Gesellschaftsvertrag von Rojava"
Die Verwaltung der kurdischen Autonomiegebiete hat sich auf die Einhaltung einer föderalen und demokratischen Verfassung verpflichtet – den "Gesellschaftsvertrag von Rojava". Dieser Vertrag sichert die Gleichstellung der Frauen, die Religionsfreiheit und das Recht auf Privateigentum zu. Im September 2017 wählten die Stimmberechtigten aus etwa 3.700 Kommunen der Demokratischen Föderation Nordsyrien ihre Vorsitzenden.
Zwar hat die syrische Regierung weder die DFNS noch deren Wahlen formell anerkannt, doch sieht Assad durchaus die Vorteile, die er aus einer Übereinkunft mit den Kurden ziehen könnte. Im vergangenen September erklärte der syrische Außenminister Walid al-Muallim, sein Land stehe einer Ausweitung der Befugnisse für die Kurden offen gegenüber. Sie „wollen eine Form der Autonomie im Rahmen der Landesgrenzen“, sagte er. „Das ist verhandelbar und kann Gegenstand des Dialogs sein.“
Er deutete an – vermutlich mit Billigung Russlands –, dass die Gespräche nach Beendigung des Bürgerkriegs aufgenommen werden könnten. Der Besuch der SDC-Delegation in Damaskus könnte den Auftakt zu diesem Prozess bilden.
Eine bittere Pille für Erdoğan
Diese Änderung der Taktik seitens der syrischen Regierung ist für Erdoğan eine bittere Pille. Die größere Autonomie, die die Kurden Syriens zu erreichen scheinen, wird die Kurden in der Türkei in ihren separatistischen Forderungen bestärken. Das erklärt Erdoğans Einmarsch in die Region um Afrin im Januar 2018 und die Bereitschaft der Kurden, gemeinsam mit Assads Truppen die türkischen Kräfte aus Syrien zu vertreiben.
Der kurdischstämmige Omar Usi, der als Abgeordneter dem nationalen Parlament in Damaskus angehört, sagte kürzlich, die Regierung wolle, dass die Kurden "den Zugang der syrischen Armee und die Rückkehr staatlicher Institutionen in die kurdischen Mehrheitsgebiete östlich des Euphrats erleichtern". Im Gegenzug bot die Regierung die "verfassungsmäßige Anerkennung der kurdischen Gemeinschaft und ihrer kulturellen Rechte an".
Doch reicht das zur Erfüllung der kurdischen Erwartungen aus? Im Rahmen des "Gesellschaftsvertrags von Rojava" hat die kurdische Autonomieverwaltung einen Großteil der linksliberalen Ideologie der kurdischen Partei der „Demokratischen Union“ (PYD) umgesetzt, einschließlich der strikten Gleichstellung von Frauen in allen öffentlichen Ämtern.
Die kurdische Fahne und Bilder des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan (oder "Apo" für "Onkel") sind allgegenwärtig. Doch Apo wurde von Erdoğan, dem Erzfeind Assads, in das berüchtigte Gefängnis auf der Insel İmralı gesperrt.
Angesichts eines gemeinsamen Feindes und der erkennbaren Vorteile einer Zusammenarbeit könnten die aktuellen Verhandlungen durchaus auf eine Fortsetzung von Assads Präsidentschaft mit kurdischer Unterstützung hinauslaufen.
Neville Teller
© MPC-Journal 2018
Aus dem Englischen von Peter Lammers
Neville Teller ist Nahost-Korrespondent der "Eurasia Review". Seine Artikel erscheinen auch regelmäßig in anderen Publikationen sowie in seinem Blog "A Mid-East Journal".