Hoffnungsträger für Frauen und LGBTs
Im Büro der HDP im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg laufen die Wahlvorbereitungen auf Hochtouren. Solidaritätsveranstaltungen werden geplant, Flugblätter gedruckt und verteilt, Informationsstände zu den Wahlen aufgebaut, Fahrten zur Stimmabgabe im türkischen Konsulat organisiert.
Dazwischen hetzt Mehtap Erol von einem Termin zum nächsten. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Erkin Erdoğan ist die dynamische, ganz in schwarz gekleidete Frau Mitbegründerin und Sprecherin der HDP-Plattform in Berlin. Für die engagierte Kurdin aus Dersim ist die HDP zweifelsohne die Partei, die sich im besten für die Belange selbstbestimmter Frauen einsetzt.
"In der Türkei sollte ein gründliches Umdenken stattfinden was die Wertschätzung und Behandlung von Frauen angeht", so Erol. Das größte Problem sind für sie die häufigen Vergewaltigungen und die Gesetzeslage, die es immer wieder erlaubt, Strafminderungen durchzusetzen.
Doch das ist für sie nur das Symptom eines viel tiefer gehenden Problems. "Es ist eine Frage des Bewusstseins und der Denkweise. Vorherrschend ist diese Macho-Stimmung, die es dem damaligen Ministerpräsident Erdoğan erlaubt, mir vorschreiben zu können, wie viele Kinder ich zu gebären habe", kritisiert sie. Frauen, die selbstbestimmt leben wollen und den Mut haben, Widerstand gegen bestehende Diskriminierungen im Alltag zu leisten, werden sich in der HDP am besten aufgehoben fühlen. Davon ist sie überzeugt.
Popularität der HDP bei Frauen
Tatsächlich ist die politische Beteiligung von Frauen ein bedeutender Aspekt im Programm der HDP, die sich in ihrer Satzung unter anderem als "Partei aller Unterdrückten und Ausgebeuteten, Ausgegrenzten, Frauen, Arbeiter, LGBTs, Intellektuellen, Schriftsteller und Wissenschaftler" versteht.
Bereits einen Monat vor der Parlamentswahl wurde in den sozialen Netzwerken ein Video von einem Interview verbreitet, das HDP-Chef Selahattin Demirtaş dem Sender Fox News gab. Als der Moderator sagte: "Als Sie ihr Wahlprogramm verkündeten, stand die HDP-Vizevorsitzende Figen Yüksekdağ neben Ihnen", korrigiert ihn Demirtaş umgehend mit den Worten: "Nein, ich war neben ihr."
Dass es sich hierbei keinesfalls um eine gönnerhafte Gentleman-Rhetorik handelt, belegen die Zahlen. Mit knapp 50 Prozent Frauen, die für ein Abgeordnetenmandat kandidieren, liegt die HDP weit vor den anderen Parteien. Bei der "Republikanischen Volkspartei" (CHP) und der "Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei" (AKP) sind es gerade einmal knapp 20 Prozent, bei der "Nationalistischen Volkspartei" (MHP) nur neun Prozent.
Politische Neuorientierung
Auch die 46-jährige Nurcan Gülbaş wird am 7. Juni die HDP wählen. Die selbstständige alleinerziehende Mutter stammt ursprünglich aus Antakya. Die Großstadt an der Levanteküste, im Süden der Türkei, ist bekannt für ihre konfessionelle Gemeinschaft bestehend aus Assyrern, Christen, Aleviten und Sunniten. Sie zählt auch zu den traditionellen kemalistischen Hochburgen.
"Meine ganze Familie wählt eigentlich die CHP", erzählt Gülbaş. Doch dieses Mal werde sie ihre Stimmen der HDP geben. Sie sei von der CHP enttäuscht, da sie inzwischen alles andere als politisch links sei. Und genau wie Gülbaş und ihre Familie denken mittlerweile mehr und mehr einstige CHP-Wähler, insbesondere Frauen und Aleviten.
Nurcan Gülbaş ist selbst Alevitin, war lange Zeit in einer linken Bewegung aktiv und saß als politische Gefangene im Bayrampaşa-Gefängnis ein, wo sie ihren Sohn Umut auf die Welt brachte. Der linken kurdischen Bewegung hat sie sich nie wirklich nah gefühlt. "Für mich war das keine soziale Bewegung, sondern eine, die sich auf ihre eigenen Interessen, auf ihre ethnische Identität konzentrierte", erzählt sie.
Tatsächlich gibt es viele, die der HDP aufgrund ihrer Vergangenheit und ihrer Nähe zu PKK-Chef Abdullah Öcalan misstrauen. Auch wenn sie mit vielen ihrer Ideen sympathisieren und sie als einzige Alternative zum bestehenden politischen System sehen. Für Nurcan Gülbaş ist jedenfalls klar, dass sich die HDP mittlerweile geöffnet hat. "Ich denke, die HDP ist ein sehr wichtiges gesellschaftliches Projekt", meint die 46-Jährige.
Besonders bewundert sie die Frauen ohne gehobene Bildung in den ländlichen Gebieten der Türkei, die für ihre Rechte auf die Straße gehen, während viele Frauen in den Großstädten längst nicht so aktiv sind, berichtet sie.
Männer und Frauen gemeinsam
Dass innerhalb der AKP gegenwärtig ein Umdenken einsetzen könnte, daran glaubt sie schon lange nicht mehr. „Wenn beispielsweise eine Frauenkommission gegründet wird, bei der die meisten Mitglieder Männer sind, kann ich das doch nicht ernst nehmen", erklärt Gülbaş. Dagegen habe bei der HDP die Doppelspitze, bestehend aus einem Mann und einer Frau, Modellcharakter. "Bei der HDP heißt es immer 'biz', also 'wir', das heißt Männer und Frauen gemeinsam."
Dass die HDP mit ihrem Programm auch für LGBTs besonders attraktiv ist, weiß Zülfukar Çetin, der bei der "Stiftung Wissenschaft und Politik" in Berlin zu Queer-Studies arbeitet. Auch wenn sich inzwischen selbst die CHP in diesem Bereich engagiert und LGBT-Kandidaten aufstellt.
Die LGBT-Bewegung hat in der Türkei eine lange Tradition. Sie reicht bis in die 1970er Jahre zurück und trat aber erst mit der Gründung des Vereins KAOS GL im Jahr 1994 öffentlich in Erscheinung. Seither führt sie einen Kampf um gesellschaftliche Sichtbarkeit und Anerkennung.
Dass sich die Situation in den letzten Jahren für die Bewegung etwas entspannt hat, ist nicht wegen, sondern trotz der AKP, glaubt Çetin. "Die Aussagen der damaligen Familienministerin Fatma Şahin, Homosexualität sei eine Krankheit und müsse geheilt werden, führte zu einem lebendigen Diskurs und Gegendiskurs", erinnert er sich. Dass es außerdem heute rund 20 LGBT-Vereine im ganzen Land gibt, geht unter anderem auf das veränderte Vereinsgesetz zurück – ein Resultat der Verhandlungen der EU mit der Türkei.
Eine Bewegung mit vielen Identitäten
Die LGBT-Bewegung beschränkt sich nicht auf die Forderung nach Anerkennung sexueller Identitäten, sondern tritt gleichzeitig für soziale Gerechtigkeit, Frauenrechte sowie gegen Rassismus ein. So gingen 2013 bei dem sogenannten "Würde-Marsch" 50.000 Menschen mit dem Slogan "Für Brot, Gerechtigkeit und Freiheit" auf die Straße.
"Es ist eine Bewegung mit vielen Identitäten – und da stimmt sie in vielen Punkten mit der HDP überein. Denn die zielt darauf, von der Gesellschaft marginalisierte Gesellschaftsgruppen zu vereinigen und zu zeigen: wir sind die Mehrheit", erklärt Çetin. So sollen Kandidaten wie der LGBT-Aktivist Barış Sulu, die Kopftuch tragende Hüda Kaya, der Roma Sedat Zımba und der Armenier Garo Paylan zeigen, dass die einstige Kurdenpartei mit ihrem Projekt "Die große Menschheit", mit dem sie bei den Wahlen antritt, die Vielfalt der türkischen Gesellschaft reflektiert. "Mit diesem Konzept", so schätzt Zülfukar Çetin den Erfolg der Partei ein, "kann es der HDP tatsächlich gelingen, bei den Wahlen die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden."
Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2015