Eine Geschichte des Widerstands
Der Mord an der 20-jährigen Studentin Özgecan Aslan vom vergangenen Februar erschütterte viele Menschen in der Türkei, aber auch im Ausland, und lenkte die Aufmerksamkeit auf Gewaltverbrechen gegen Frauen. Welche Schlussfolgerungen wurden aus der Debatte gezogen?
Selime Büyükgöze: Der Mord an Özgecan Aslan wurde in den Medien als Einzelfall dargestellt. Auch die Reaktionen der Öffentlichkeit bezogen sich auf dieses singuläre Verbrechen und sahen nicht das Problem als Ganzes. Die Gewalt von Männern gegen Frauen ist systematisch und Özgecan Aslan ist nicht die einzige Frau, die davon betroffen ist. Die Menschen verurteilten den Mord besonders, weil es sich um eine junge Frau handelte. Und weil der Mord am helllichten Tag geschah. Wäre die Situation aber eine andere gewesen, hätte das nicht zu denselben Reaktionen geführt.
Wenn etwa eine Frau im Minirock nachts von einem Mann, den sie kennt, also dem Ehemann, Freund, Bruder oder Vater, Gewalt erfahren hätte. Das ist ein Aspekt. Ein anderer ist der, dass man diese Männer häufig quasi als geisteskrank darstellt. Auf diese Weise marginalisiert man gewissermaßen ihren Gewaltakt. Dabei handelt es sich dabei nur um eine Variante jener männlichen Gewalt, die wir jeden Tag erleben. Die Täter sind normale Männer, die uns auf der Straße begegnen. Das sind unsere Väter, Brüder, Freunde. Ein anderer Punkt, der bei der Diskussion immer wieder hochkam und dem wir widersprechen, ist die Todesstrafe.
Für uns ist die Todesstrafe jedoch keine Prävention, sondern allenfalls eine Drohung für die Verbrecher. Vielmehr erwarten wir von der Gesellschaft und der Regierung, dass sie Maßnahmen ergreift, um die Ungleichheit zwischen Mann und Frau aufzuheben, und die Frauen vor Gewalttaten zu schützen.
Mit welchen Problemen kommen die Frauen am häufigsten zu Ihnen?
Büyükgöze: Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf der häuslichen Gewalt. Die meisten der über 500 Frauen, die sich im letzten halben Jahr an uns wandten, haben psychische Gewalt erfahren, gefolgt von physischer Gewalt. Dabei sind die Übergänge häufig fließend. Eine Frau, die physische Gewalt erfahren hat, wurde vermutlich vorher auch psychisch unter Druck gesetzt. Der Aspekt der psychischen Gewalt ist besonders wichtig, weil man bei Gewalt häufig erst einmal an ein blaues Auge denkt, also an Gewalt, deren Spuren man sieht.
Ein sehr wichtiges anderes Detail ist, dass 66 Prozent der Gewalttaten an Frauen von deren Ehemännern, Partnern, Vätern oder Exmännern verübt werden. Es gibt verschiedene Kategorien von Gewalt. Das reicht von Ohrfeigen über Tritte bis zu dem Verbot, die eigene Familie zu sehen oder zu arbeiten. Und auch dabei gibt es verschiedene Formen. So kommt es vor, dass jemand bewusst so schlägt, dass man keine Spuren sieht. Das zeigt uns, dass Gewalt von Männern häufig durchdacht ist und nicht aus dem Affekt heraus geschieht. Die Frauen kontaktieren uns per Mail oder Telefon, unsere Sozialberaterinnen sprechen mit ihnen, unterstützen sie moralisch, klären sie über ihre Rechte auf und erarbeiten mit ihnen einen Plan. Außerdem haben wir ein Frauenhaus für 19 Frauen gegründet.
Worin sehen sie die Ursache dafür, dass Gewalt gegen Frauen derart verbreitet ist?
Büyükgöze: Die Hauptursache liegt in der Hegemonie der Männer. Das gibt es nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa oder in den USA, wie Berichte der UN zeigen. In jedem Land gibt es zusätzlich noch eine ganz eigene Dynamik, die das Phänomen fördert. Es kann sich dabei etwa um Religion oder politische Macht handeln.
Im Fall der Türkei ist es so, dass es Gewalt gegen Frauen auch schon vor 10, 15 Jahren gab. Wir können aber ganz klar sagen, dass die AKP-Regierung aus ihrer Feindschaft gegen Frauen keinen Hehl macht. Fast jeden Monat hören wir von einem Mitglied der Regierung Aussagen, die sich gegen Frauen richten. Etwa wie sich eine Frau zu verhalten und zu leben hat, dass sie mindestens drei Kinder bekommen sollte, auf der Straße nicht laut lachen oder nicht abtreiben darf. Man versucht auch Abtreibungen zu verhindern, in dem man sie weiter erschwert.
Man versucht die Rollen, die man der Frau und dem Mann beimisst, so darzustellen, als seien sie naturgegeben. Daraus leitet man ab, dass es die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist, sich um das Haus zu kümmern und Kinder zu bekommen. Aus dieser Rolle auszubrechen, ist dann so gut wie unmöglich. Denn – so wird argumentiert – das ist Deine Natur und, wenn Du das nicht tust, dann ist es nur legitim, dass gegen Dich Gewalt angewendet wird.
Ein weiteres Beispiel ist das Gewalt-Gesetz Nr. 6284: Schon der Name des Gesetzes ist problematisch, denn es heißt "Gesetz zum Schutz der Familie". Für die AKP gilt die Frau nur etwas innerhalb der Familie. Auch wurde der Name des "Ministeriums für Frauen" in "Familienministerium" geändert.
Wir denken, dass Gewalt gegen Frauen nur verhindert werden kann, wenn man gegen die Hegemonie der Männer, gegen die Ungleichheit angeht. Die AKP betont aber immer die Familie und versteht die Ungleichheit gar nicht als Problem. Für Recep Tayyip Erdoğan ist es auch selbstverständlich, immer wieder zu betonen, dass für ihn Männer und Frauen nicht gleichgestellt sind. Das hat zur Folge, dass Gesetze formuliert werden, die zum Nachteil der Frauen sind. Man zieht die Frauen nicht vollkommen aus der Arbeitswelt, aber man ermutigt sie, auf dem Arbeitsmarkt flexibler zu sein, um zu Hause die ganze Hausarbeit zu übernehmen. Dazu zählt nicht nur Kinder zu bekommen, sondern auch, sich um Behinderte oder Alte zu kümmern. Also Aufgaben zu übernehmen, um die sich eigentlich der Staat kümmern müsste.
Gerade seit dem Mord an der Studentin sind viele Frauen, aber auch Männer auf die Straße gegangen, um gegen Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren. Ist ein neues gesellschaftliches Bewusstsein erwacht, kann man von einer neuen sozialen Bewegung sprechen?
Büyükgöze: Dass die Männer mit auf die Straße gehen, finde ich persönlich bigott, denn wie ich schon gesagt habe, das Problem ist globaler Natur. Wenn ich beispielsweise bei der Arbeit gemobbt werde, wenn man mir respektlos ins Wort fällt, weil ich eine Frau bin, wenn ich geohrfeigt werde oder wenn mein Vater mir nicht erlaubt, nachts auf die Straße zu gehen, also kurz, wenn man mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe, dann ist das deswegen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der bei den Männern Solidarität in diesen Punkten besteht. Es so darzustellen als würden im täglichen Leben die Männer nicht von diesem Ungleichgewicht profitieren, halte ich für äußerst problematisch.
Die Männer sollten vor allem ihre Männlichkeit hinterfragen. Natürlich dürfen sie demonstrieren, aber es wäre doch viel besser, sie blieben zu Hause, kümmerten sich um die Kinder und hielten ihren Frauen den Rücken frei, damit sie für ihre Rechte auf die Straße gehen kann. Seit 1987 hat die Türkei eine sehr starke feministische Bewegung. Die Aktion "Schrei', dass jeder es hört" ist nur eine von vielen, mit der sich Frauen Gehör verschafft haben. Kürzlich haben Frauen, die an sich keiner Organisation angehören, mit der #Sendeanlat (Erzähl auch du)-Bewegung über die sozialen Medien ihre Erfahrungen mit männlicher Gewalt geteilt. Man muss erkennen, dass die Frauen in dieser Umgebung von männlicher Gewalt einen großen Kampf führen. Es ist nicht nur eine Geschichte der Unterdrückung, sondern auch des Widerstands.
Interview: Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2015