Das Recht auf Muttersprache
Rund 800.000 Kurden leben schätzungsweise in Deutschland. In Europa soll ihre Zahl etwas über eine Million betragen. Genau Zahlen gibt es nicht, denn die Kurden sind Minderheiten in verschiedenen Nationalstaaten – in der Türkei, im Irak, Iran, in Syrien oder mittlerweile in den Ländern der Diaspora.
Dass sie als Minderheiten verschiedenen nationalen Sprachen untergeordnet sind, ist auch eines der Hauptschwierigkeiten der in der Diaspora lebenden Kurden bei der Pflege ihrer Sprache. Auch in Deutschland ist man sich der besonderen Situation der Kurden erst sehr spät bewusst geworden, weiß Eva Rudolph vom Projekt Hînbûn, dem Internationalen Beratungszentrum für Frauen und ihre Familien.
"Als die ersten Kurden aus der Türkei nach Deutschland kamen, entweder als sogenannte Gastarbeiter oder als politische Flüchtlinge in den 1960er und 70er Jahren und besonders in den 1990ern, wurden sie von den deutschen Behörden als Türken behandelt. Das heißt, man stellte ihnen zum Beispiel türkische Dolmetscher zu Verfügung, mit denen sie sich aber nicht verständigen konnten."
Heute leistet das vor 30 Jahren gegründete Berliner Projekt, das sich mittlerweile international geöffnet hat, zum einen Kulturarbeit, zum anderen bietet es Alphabetisierungskurse in Kurdisch an. "Wir wissen heute, dass es wichtig ist, in seiner eigenen Muttersprache lesen und schreiben zu können, um dann eine andere Sprache besser zu lernen", erklärt Rudolph. Der Bedarf sei groß, denn die Schriftkultur sei nicht besonders ausgeprägt.
Regionale Unterschiede
Die kurdische Sprache besteht aus drei Gruppierungen: Nordkurdisch, oder Kurmandschi, das von den meisten Kurden in der Türkei und dessen Grenzen zu Syrien, dem Iran und Irak, von den meisten Kurden in der Diaspora und aus den ehemaligen Sowjetrepubliken gesprochen wird. Zentralkurdisch, auch Sorani, wird im Iran und Irak gesprochen und Südkurdisch in Südkurdistan, d.h. die Gegend von Kermanschah im Iran, sowie Zazaki in Ostanatolien.
Der Zugang der in Deutschland lebenden Kurden zu ihrer Muttersprache unterscheidet sich voneinander, geprägt durch ihre Erfahrungen im Heimatland. Während in der Türkei erst seit ein paar Jahren der staatliche Fernsehsender TRT 6 auf Kurdisch sendet, kurdische Sprachkurse angeboten werden und die ersten Lehrer für kurdische Sprache an der Universität Mardin ausgebildet wurden – die allerdings zurzeit durch Hungerstreik ihre Lehrerlaubnis fordern – können die aus dem kurdischen Irak stammenden Kurden Schulen und Universitäten in ihrer Muttersprache besuchen.
Das lässt sich auch bei Hînbûn feststellen, erzählt Eva Rudolph: "Man spürt, dass die Frauen aus Südkurdistan ihre Kultur selbstverständlich leben, während den Frauen aus der Türkei die Angst vor Verfolgung noch immer anzumerken ist", so Rudolph.
Einer von denen, die sich dafür einsetzen, dass ihre Sprache nicht in Vergessenheit gerät, ist der aus Muş in der südostanatolischen Provinz Varto stammende Ciwan Tengezar. Ende der 1990er Jahre kam er als Asylant nach Deutschland. Heute lebt und arbeitet er als Musiker und Kurdischlehrer in Berlin. "Alle Kurden, die ihre Sprache gut beherrschen, haben sie später durch Eigeninitiative gelernt", sagt er und meint damit vor allem die Kurden aus der Türkei.
Er und seine Familie haben am eigenen Leib erfahren was es heißt, die eigene Muttersprache nicht sprechen zu dürfen. "Mein Großvater", so erinnert er sich, "trommelte in den 1940er Jahren sämtliche Kinder von der Straße zusammen und sagte ihnen, sie dürften draußen kein Kurdisch sprechen. Ein Polizist habe mitgezählt, sieben Wörter Kurdisch seien gesprochen worden und jetzt müsse er eine Strafe bezahlen."
Beschränkter Wortschatz
Auch als Ciwan selbst in den 1960ern in Varto und dann später im westtürkischen Izmir aufwuchs, durfte er Kurdisch nur mit den Alten zu Hause sprechen. "Dementsprechend beschränkt bleibt da der Wortschatz", erklärt er. Erst in Berlin habe er seine Sprache ohne Angst sprechen können.
Seitdem hat er es sich zur Aufgabe gemacht, seine Sprache, auch die literarische, gut zu beherrschen und sein Wissen an andere weiterzugeben. Er hat Bücher übersetzt, eine Zeitschrift herausgegeben, CDs mit kurdischen Kinderliedern eingespielt, ein Lehrbuch erarbeitet. Und seinem Engagement ist es geschuldet, dass seit 2012 Kurmandschi an der Volkshochschule Berlin unterrichtet wird. Die meisten seiner Schüler seien entweder Kurden, die ihre Muttersprache verbessern möchten, oder Menschen, die mit Kurden verheiratet sind. "Bislang hatte ich nur einen türkischen Schüler", erzählt er.
Kurdisch außen vor
Er unterrichtet auch Kurdisch an Schulen. Doch das ist nicht immer einfach, wie er erzählt. Oft habe er von Schulleitern gehört: "Kurdisch ist eine politische Sprache. Meine Tür ist geschlossen. Ich möchte keinen Ärger haben". "Die türkische Lobby in Deutschland ist wirtschaftlich und politisch sehr einflussreich", sagt er. "Die deutschen Schulen richten sich nach den Forderungen der türkischen Eltern, die gegenüber den kurdischen Eltern deutlich in der Mehrheit sind." Doch Tengezar ist ein Visionär – in Zukunft würde er gerne eine Schule eröffnen, in der die drei kurdischen Sprachen, aber auch Türkisch und Aramäisch, unterrichtet werden.
Um eine Etablierung des Kurdischen auf akademischem Niveau bemüht sich seit Jahren Feryad Omar, Akademischer Studienrat an der Freien Universität Berlin. Ende der 1970er Jahre kam der damalige Dozent für kurdische Sprache und Literatur im irakischen Sulaymaniya als junger Wissenschaftler an die Freie Universität. Seitdem unterrichtet er im Rahmen der Iranistik kurdische Dialekte, Literatur und Geschichte.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts interessiert sich die deutsche Orientalistik für die kurdische Sprache. So veröffentlichte der Orientalist und Sprachwissenschaftler Ferdinand Justi 1880 die erste kurdische Grammatik und der Orientalist Oskar Mann brachte kurdische Handschriften in deutsche Bibliotheken.
Wissenschaftslandschaft als Wüste
Dennoch war für Omar die Wissenschaftslandschaft in seinem Fachbereich "eine Wüste", als er an die Berliner Universität kam. Es gab kaum Lehrmaterial, keine Methodik. Sofort machte er sich an die Arbeit und brachte 1992 das erste Wörterbuch Kurdisch-Deutsch mit 35.000 Stichwörtern heraus – "damals eine Sensation", erzählt er. Es folgten weitere Wörter- und Lehrbücher, die Sprache und Gedankengut des kurdischen Volk vermitteln wollen, so Omar. Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass an der Freien Universität Berlin der Schwerpunkt Kurdisch unterrichtet wird wie an sonst keiner Universität in Deutschland.
"Bei meinen Projekten habe ich besondere Rücksicht auf die neuen Generationen von Kurden genommen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind", berichtet Omar. Außerdem ist sein Lehrmaterial sowohl mit arabischem als auch mit lateinischem Alphabet geschrieben, damit Kurden aus unterschiedlichen Ländern Zugang finden.
Neben denen, die ihre Muttersprache vertiefen möchten, zieht das Institut aber auch Studierende verwandter Fachbereiche wie Turkologie, Arabistik und Politologie an. Gleichzeitig ist Omar, der bislang zwei Gedichtbände mit eigenen Gedichten auf Deutsch herausgegeben hat, Gründer und Leiter des Instituts für Kurdische Studien, das seit 1988 Lehrmaterial und einzelne literarische Werke herausgibt.
Seit einiger Zeit hat sich der Austausch mit Universitäten im irakischen Kurdistan vertieft und Omar hofft, dass seine Arbeit in der Diaspora in die Ursprungsländer zurückfließt und damit einen Beitrag zu internationalen kurdischen Studien leistet.
Ceyda Nurtsch
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