Absolute Mehrheit in der Schwebe
Die regierende AKP zieht mit dem Slogan "Eine neue Türkei" in den Wahlkampf. Sie verspricht eine neue Verfassung, die aus dem parlamentarischen ein präsidiales System machen würde. Dieses Ziel lässt sich jedoch nur mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit erreichen. Die Messlatte für eine Verfassungsänderung liegt hoch.
Flankierend dazu werden viel versprechende Projekte angeboten: "Wir haben in der gesamten Türkei eine revolutionäre Entwicklung auf den Weg gebracht, erklärt Nesrin Ulema, die für die AKP im Parlament sitzt. "Wir werden unsere Arbeit mit neuen Zielen zum Wohl der Menschen fortsetzen. So haben wir bereits notwendige Schritte zur Errichtung von zwei Atomkraftwerken unternommen und planen den Bau des größten Flughafens weltweit – des dritten in Istanbul."
Seit jeher bildet die boomende Wirtschaft die Basis der legendären Wahlerfolge der AKP in 13 aufeinander folgenden Jahren. In ihrer Regierungszeit hat sich das Bruttoinlandsprodukt immerhin verdreifacht.
Doch genau hierin liegt auch das Problem: "Der Wirtschaftsaufschwung gerät seit Jahresanfang immer stärker ins Stocken", warnt Chefökonom İnan Demir von der Istanbuler Finansbank. "Die Verbraucher zeigen wenig Vertrauen, ebenso wie die Wirtschaft. Seit Jahresbeginn erlebt die türkische Lira einen regelrechten Einbruch und belegt einen der schlechtesten Plätze. Die hohe Inflation ist für viele eine bittere Enttäuschung."
Mitverursacher sind hohe Aufschläge der Lebensmittelpreise, sodass die türkischen Zeitungen voll sind mit Meldungen über Rekordpreise für Grundnahrungsmittel, wie beispielsweise Kartoffeln.
Die neue Taktik der CHP
Als größte Oppositionspartei nutzt die streng säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) die Gunst der Stunde mit einer neuen Strategie: Anstatt die AKP wegen ihrer islamistischen Wurzeln anzugreifen, verweist sie jetzt auf die lahmende Wirtschaft. "Die ökonomische Situation und unser Versprechen und Wille, die öffentliche Verwaltung zu verbessern, gehen jeden an", erklärte Selin Sayek-Böke, stellvertretende Parteivorsitzende der CHP.
Zudem hat die CHP von ihrer erfolglosen Taktik abgelassen, sich als Partei von Mustafa Kemal Atatürk anzudienen, dem Gründer der säkularen Türkei. Durfte der Name Atatürk zuvor in keiner Parteirede fehlen, ist er heute nur noch selten zu hören. Gleiches gilt für das Wort "Laizismus" (Säkularismus). In früheren Wahlen stempelte die regierende AKP die CHP gnadenlos als Partei der Elite, der Gestrigen und der Anti-Muslime ab.
Im Gegenzug stemmte sich die CHP gegen die Reformen der AKP, die beispielsweise das Kopftuchverbot in staatlichen Gebäuden und Universitäten aufhob. Diesen Kurs hat man mittlerweile verlassen. "Wir bekennen uns zum Schutz dieser demokratisch-religiösen Reformen und für die Wiedereinführung der abgeschafften Rechte", betont Sayek-Böke und verweist damit auf die Tatsache, dass die Türkei mittlerweile international auf breiter Front wegen der Einschränkung der Meinungsfreiheit kritisiert wird.
Beraten von einer Top-Werbeagentur hat die CHP zudem ihrer Rivalin mit einer ausgezeichneten Kampagne und einprägsamen Slogans den Rang abgelaufen. Eine AKP-freundliche Kolumnistin mutmaßte, dass die CHP zu solchen Ideen gar nicht fähig sei, und vermutete dahinter das Werk der CIA.
Unklar ist allerdings, ob die CHP die frommen Wählerschichten gewinnen kann. Zumindest blieb der Wahlkampf bislang von einer polarisierenden Debatte zwischen säkularen und frommen Kräften verschont. Eine solche Polarisierung ist bislang noch immer der AKP zugute gekommen, denn sie veranlasste die frommen Wähler dazu, ihre Reihen fest zu schließen. Heute könnte das fromme muslimische Wahlvolk annehmen, das unter der AKP bisher Erreichte sei sicher – ganz gleich, welche Partei das Land regiert.
AKP-Wahlkampf ohne Erdoğan
Die AKP muss sich der runderneuerten CHP ohne ihren charismatischen und als unbesiegbar gefeierten Führer Recep Tayyip Erdoğan stellen, denn dieser wurde vergangenes Jahr zum Präsidenten gewählt. Und der Präsident ist laut Verfassung zur politischen Neutralität verpflichtet. "Erdoğan ist ein politisches Schwergewicht. Er war ein starker Parteivorsitzender. Seinem Nachfolger Davutoğlu unterlaufen hingegen viele Fehler", beobachtet Betül Durmaz von der Gediz-Universität.
Den Parteivorsitz übernahm Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der mit seiner Kampagne von Anfang an einen Fehlstart hingelegt hat. So verlas er auf einer Parteiversammlung im vergangenen April Artikel für Artikel das Manifest seiner Partei – den sogenannten "Vertrag 2023 für die neue Türkei". Leider fehlen darin einige wichtige Artikel zum fortlaufenden Friedensprozess mit den kurdischen Aufständischen. Diese seien bei der digitalen Übertragung an die Druckerei verloren gegangen, hieß es. Die Erklärung trug ihm den bissigen Spott seiner Gegner ein. Dem gelehrten Professor fehlt zudem die rhetorische Begabung seines Vorgängers.
Ungeduldig geworden, konnte Erdoğan der Versuchung nicht widerstehen, kaum verdeckt in den Wahlkampf einzugreifen. Die Opposition verurteilt dies einhellig als verfassungswidrig – was Erdoğan seinerseits zurückweist. Sein Verhalten könnte allerdings kontraproduktiv sein.
"Die Wähler könnten sich verunsichert fragen, wer eigentlich die AKP führt", stellt Durmaz fest. Auch die zentrale Botschaft der Partei, ein Präsidialsystem einführen zu wollen, ist kein "Wahlkampfschlager". In Meinungsumfragen spricht sich eine Mehrheit dagegen aus: Sogar unter AKP-Anhängern ist die Ablehnung gewaltig.
Doch die AKP hat einen entscheidenden Vorteil: Sie kann sich auf eine mächtige Parteiorganisation stützen, die alle anderen in den Schatten stellt. "Mit der Kraft unserer 9,5 Millionen Mitglieder machen wir uns die Botschaft zu eigen und erzählen von den Errungenschaften und Grundsätzen unserer Partei in jeder Straße, in jedem Haus und in jedem Dorf", stellt Nesrin Ulema klar. Die Hälfte der Mitglieder sind Frauen. Diese Frauen mobilisieren die weibliche Wählerschaft der Türkei durch Hausbesuche, was in der Türkei ein Novum ist.
Alle Meinungsumfragen sehen die AKP weiterhin deutlich vor ihren Konkurrenten. Doch schrumpft der Abstand im Vergleich zu früheren Wahlen. Es gibt allerdings einen Unsicherheitsfaktor, der die Rechenspiele der AKP über den Haufen werfen könnte: die Entscheidung der prokurdischen Partei HDP, als Parlamentspartei ins Rennen zu gehen.
Prokurdische HDP nimmt 10-Prozent-Hürde ins Visier
Bislang ließ die in der Türkei geltende und weltweit einmalige 10-Prozent-Hürde jede prokurdische Partei an einem Einzug ins Parlament scheitern. Dieses Parteienspektrum gewinnt üblicherweise etwa sechs Prozent der Wählerstimmen. Die prokurdische HDP (bisher BDP) will den Bann brechen, indem sie unabhängige Kandidaten aufstellt. Unter der Leitung des jungen, charismatischen Selahattin Demirtaş – und auf der Grundlage von Demokratie und Pluralismus – schickt sich die Partei an, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden – was einem politischen Erdbeben gleichkäme.
Neben kurdischen Kandidaten schickt die Partei auch einen Armenier, einen Roma und den landesweit ersten bekennenden Homosexuellen an den Start. "Wir kämpfen für die Rechte der Arbeiter, der Frauen, der Schöpfung und der Tiere. Doch alles das verbinden wir mit dem Kampf für die kurdische Sache", erklärte unlängst der Parlamentsabgeordnete Ertuğrul Kürkçü.
Wie bereits ihre Vorgänger errang die HDP zuvor kaum Stimmen unter der türkischen Bevölkerung, insbesondere nicht in den Städten im Westen. Viele misstrauten den Verbindungen zur PKK, die den türkischen Staat seit 1984 zur Erlangung von Autonomierechten bekämpft. Doch seit mittlerweile zwei Jahren ist ein Friedensprozess in Gang gekommen. Der damit verbundene Waffenstillstand wurde bislang weitgehend eingehalten. Der Parlamentsabgeordnete Ertuğrul Kürkçü, der in der westlichen Stadt Izmir antritt, stellt eine wichtige Veränderung des politischen Klimas fest.
"In der Vergangenheit waren unsere Menschen und Einrichtungen ständig Angriffen ausgesetzt. Heute kann in Izmir von einer hassgefüllten Atmosphäre nicht mehr die Rede sein. Ich weiß selbst nicht, ob dies von Dauer ist, aber ich weiß, dass die HDP heute auf der gleichen Grundlage wie alle anderen Parteien antritt. Das ist einfach unglaublich und erscheint mir wie ein Wunder."
Alle Meinungsumfragen sehen die HDP bei rund 10 Prozent, was wiederum die AKP zutiefst beunruhigt, da die AKP nach dem türkischen Wahlrecht der große Verlierer wäre, wenn der HDP der Einzug ins Parlament gelänge. Einige Prognosen sprechen von einem Verlust von bis zu 50 Parlamentssitzen. In Verbindung mit einer wiedererstarkten Opposition ist es nicht ausgeschlossen, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verliert.
Der härteste Wahlkampf der letzten zehn Jahre
"Die Einsätze sind diesmal sehr hoch. Daher befürchten viele eine Manipulation der Wahlen", warnt Kadri Gürsel, politischer Kolumnist und Spezialist für Kurdenfragen des Massenblatts "Milliyet". "Sollte die HDP an der 10-Prozent-Hürde scheitern, könnten misstrauische und enttäuschte Wähler das Land durchaus destabilisieren."
Wenn die HDP nicht ins Parlament einzieht, würde ein Großteil ihrer Stimmen auf die AKP als stärkste Rivalin übertragen. Das könnte der AKP schließlich eine komfortable Mehrheit bescheren und die nötige Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung in greifbare Nähe bringen.
Die Kommunalwahlen im vergangenen Jahr waren von mutmaßlichen Wahlmanipulationen überschattet, da es genau zum Zeitpunkt der Stimmenauszählung zu mysteriösen Stromausfällen kam. Verantwortlich dafür waren laut Regierung Katzen, die sich in die Kraftwerke verirrt hätten.
Die zerstrittene türkische Opposition hat guten Grund, eine Überwachung der Wahlen sicherzustellen. Nach landläufiger Auffassung wird das Land nicht nur den härtesten Wahlkampf der letzten zehn Jahre erleben, sondern auch die bestüberwachte Wahl.
Dorian Jones
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers