Dialog ist notwendig
Der Journalist Nabil Chbib geht dem Begriff des "politischen Islam" und seiner Verbreitung in der arabischen und ausländischen Presse auf den Grund. Er fordert die westliche Welt dringend zum Dialog mit Gruppierungen des politischen Islam auf.
Den Begriff "politischer Islam" findet man weder im Koran noch in den Hadithen des Propheten und ebenso wenig in den islamischen Quellen. Auch die islamischen Bewegungen, die im zwanzigsten Jahrhundert entstanden sind, haben den Begriff jahrzehntelang nicht benutzt. Dennoch ist die Verwendung dieses Begriffs in Sachbüchern und in den Medien weit verbreitet, besonders in jüngster Zeit.
Wie entstand der Begriff und was genau ist damit gemeint? In welcher Beziehung steht er mit den so genannten Islamisten? Der Begriff "Islamist" ist modernen Ursprungs und wurde im arabischen Sprachraum geprägt, um zwischen der Allgemeinheit der Muslime und denjenigen unterscheiden zu können, die sich Organisationen anschließen, die die Einhaltung der islamischen Vorschriften im Alltag wie auch in der Politik zum obersten Ziel haben.
Nur ein Schlagwort der Mediensprache?
Es ist schwierig, diesen Begriff als Terminus zu bezeichnen, da man keine Definition findet, die den Begriff eindeutig festlegt. Der Leser kann nicht genau wissen, was der Autor damit meint, wenn dieser den Begriff nicht näher erläutert.
Wörter wie "Bürgertum", "Menschenrechte" oder "Staatssouveränität" sind hingegen durchaus Termini, die man in internationalen Verträgen und im akademischen Fachjargon findet. Auch diese Termini werden unterschiedlich verwendet und in ihrer eigentlichen Bedeutung verändert, was aber meist vernachlässigt wird.
Zwar gebrauchen die Wissenschaftler den Begriff des "politischen Islam". Dabei behalten sie sich jedoch vor, den Begriff individuell zu deuten. Auch diejenigen, die in der Medienbranche tätig sind, beschreiben damit entweder die "herrschende Realität", so wie sie von ihnen wahrgenommen wird, oder äußern damit eine Meinung, die sie zur Disposition stellen. Häufig verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung sogar eine Anschuldigung bestimmter Gruppierungen innerhalb der islamischen Organisationen, mitunter werden sie durch diesen Begriff so auch über einen Kamm geschert.
Ein einziger Islam
Aus islamischem Blickwinkel lässt sich – trotz der Vielzahl der theologischen Rechtsschulen – konstatieren, dass es nur einen Islam gibt, der auf einheitlichen Prinzipien, grundlegenden Texten und Richtlinien aufbaut, die im Koran und den Äußerungen des Propheten Muhammad enthalten sind. Es gibt also weder einen politischen Islam noch einen unpolitischen Islam, weder einen gesellschaftlichen noch einen ökonomischen Islam oder gar einen Islam der Wohltätigkeiten.
Vielmehr umfasst der Islam mit seinen Prinzipien und Vorschriften alle wichtigen Aspekte des menschlichen Lebens, wie zum Beispiel die Politik, die Soziologie oder die Ökonomie. Die islamischen Organisationen schreiben sich "den Islam" aufs Banner, konzentrieren sich dabei aber nur auf einen seiner vielen Aspekte.
Die Gründung dieser Organisationen im 20. Jahrhundert war eine Reaktion auf den Rückgang islamischer Wertvorstellungen auf staatlicher Ebene. So wurde auch der politische Aspekt des Islam immer weiter vernachlässigt.
Das mag erklären, warum sich jene Organisationen, und konkret die, die sich auf den politischen Aspekt konzentrieren, nicht den Begriff des "politischen Islam" gebrauchen, um ihre Ziele darzulegen. Wie schon erwähnt, wird er erst seit kurzer Zeit verwendet, wobei sich kaum noch feststellen lässt, ob die Medien in den westlichen oder in den arabischen Ländern für seine Einführung verantwortlich sind.
Für den Leser der Texte, in denen der Begriff erscheint, ist aber folgendes offensichtlich: Erstens ist der Begriff negativ besetzt. Dem "politischen Islam" begegnet man kritisch und ablehnend. Man beschuldigt ihn sogar in Verbindung mit Begriffen zu stehen, die bereits früher auf ähnliche Weise geprägt wurden, so z.B. "islamischer Fundamentalismus" oder "islamischer Terrorismus".
Zweitens hängt die Verbreitung dieses Begriffs zusammen mit einem Phänomen, das zunächst kaum wahrgenommen wurde. Verfolgt man aber aufmerksam die Entwicklung der Mediensprache in den westlichen und in den arabischen Ländern- die im Diskurs über den Islam größtenteils dasjenige übernehmen, was sich im Westen durchsetzt- so sieht man, dass die Differenzierung zwischen Begriffen wie "gemäßigte Islamisten", "radikale Islamisten" und vergleichbaren Wortschöpfungen allmählich verschwimmt. Letztendlich setzte sich die Bezeichnung "Islamist" zur Beschreibung der Mitglieder islamischer Organisationen durch, und damit einhergehend eine – negativ geprägte – Verbindung mit dem Begriff "politischer Islam".
Dialog – mit wem?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wo und mit wem soll der Dialog zwischen dem Islam und dem Westen, der seitens der Politiker und in den Medien ständig gefordert wird, eigentlich stattfinden? Denn beiden Seiten muß eigentlich klar sein, dass dieser Dialog eben nur dann Realität werden kann, wenn auch wirklich beide Seiten daran beteiligt sind und eine Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Auffassungen über das Problem stattfindet.
In den islamischen und besonders in den arabischen Ländern, wo sich die islamischen Organisationen ausbreiten und gleichzeitig die Frömmigkeit verstärkt in alle Gesellschaftskreise Einzug hält, werden oftmals andere Auffassungen vertreten als im Westen. Zu beachten ist dabei, dass die Regime in diesen Ländern und die ihnen verbundenen politischen Strömungen noch am ehesten mit dem Westen konform gehen, ohne dass je ein wirklicher Dialog stattgefunden hätte oder dieser tatsächlich nötig wäre.
Ständige Bereitschaft zum Dialog
Das häufig bemühte Argument, die Ausbreitung des Extremismus und des Terrorismus unter dem Deckmantel des Islam behindere den Dialog mit jenen Organisationen, ist ein Vorwand. Die Realität in den westlichen Ländern selbst widerlegt dies. Nicht nur, weil es auch dort Extremismus und Terrorismus gibt - vielmehr ist der Dialog zwischen den politischen Wortführern, der öffentlichen Meinung und den Organisationen, denen Extremismus und Terrorismus vorgeworfen wird, keineswegs abgebrochen. Das Beispiel Nordirlands spricht hier für sich.
Auch die Situation der islamischen Organisationen in der islamisch-arabischen Welt selbst spricht gegen dieses Argument. Zumindest in letzter Zeit signalisierten sie eine große und andauernde Bereitschaft zum Dialog sowohl mit den eigenen Regierungen als auch in Richtung Westen. Viele bekennen sich nach wie vor zu einer Haltung des - um es mit einem islamischen Terminus zu sagen - "mittleren Weges", also zu einer gemäßigten Haltung.
Dialog schließt Kritik nicht aus
Der Dialog zwischen dem Islam und dem Westen muss in einer Form stattfinden, wie sie bereits mit anderen Regierungssystemen praktiziert wird, wie im Falle Chinas oder Irans. Diese Form des Umgangs schließt gegenseitige Kritik nicht aus, auch hat die Kritik bislang nicht zum Abbruch des Dialogs geführt.
Auch wenn es finanzielle Interessen waren, die bei der Fortsetzung des Dialogs mit China, Iran und anderen Ländern über Jahrzehnte hinweg eine entscheidende Rolle spielten: Gerade die westlichen Mächte sollten dem Dialog gegenüber positiv eingestellt sein und verstärkt zum Austausch mit den Vertretern des so genannten "politischen Islam" aufrufen.
Finanzielle Interessen werden nicht durch aktuelle Umstände bestimmt. Die Ausweitung des Phänomens "politischer Islam" auf organisatorischer Ebene wie etwa bei Wahlen, sofern die Regime diese überhaupt durchführen, steht Seite an Seite mit dem Phänomen der verstärkten Religiosität des Volkes. Es steht fest, dass die finanziellen Interessen in der arabisch- islamischen Welt eng mit der Auswirkung beider Phänomene auf die Gestaltung der Zukunft in dieser Region zusammenhängen.
Nabil Chbib
Nabil Chbib ist Journalist in der arabischen Redaktion der Deutschen Welle.
Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell