Salafismus: Die Macht der Provokation

Salafismus. Das ist Wahnsinn. Das ist das Böse unserer Zeit. Das ist der Untergang des Abendlandes. Diese erste, intuitive Regung ist nachvollziehbar: In einem zweiten Schritt sollte man versuchen zu verstehen und sich selbstkritisch fragen. Von Aladin El-Mafaalani

Von Aladin El-Mafaalani

Wie kann es sein, dass eine Ideologie, die es seit Ewigkeiten gibt, gerade heute bei den Jugendlichen Westeuropas einen Aufschwung erlebt? Warum sehnen junge Männer und Frauen mit und ohne „Migrationshintergrund“ das Frühe Mittelalter herbei und bilden damit eine der dynamischsten gegenwärtigen Jugendbewegungen? Diesen Fragen kommt man näher, ohne theologische Diskurse zu führen. Man muss das Ganze vielmehr mit den Augen der Jugendlichen sehen.

Jugendliche neigen dazu, sich von Vorgängergenerationen abzugrenzen. Dabei können extreme Gegenpositionen zutage kommen. Ein veränderter Lebensstil ist hierfür typisch. Kleidung, Frisuren, Drogen und Musik waren häufig sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck von Abgrenzung und Provokation. So war es bei Studentenbewegungen, den Punks, der Hip Hop Kultur. Und heute? Jugendliche haben kiffende Lehrer und Eltern mit Piercing und gefärbtem Haar. Adelige Bundesminister gehen auf Heavy Metal Konzerte, First Ladies sind tätowiert. Sex, Drugs and Rock n Roll – dieser in die Jahre gekommene Spirit lässt sich heute bestenfalls noch auf Ü 40 Partys finden. Alle Kombinationen von Sex, Rauschmitteln und Musik hat es schon gegeben.

Religion und Rebellion

Worin steckt heute das größte Provokationspotenzial? Die alltagspraktische Funktion eines Kopftuchs (oder gar einer Burka) weist – bei allen Unterschieden – unglaublich viele Ähnlichkeiten mit dem punkigen Irokesen in den 1970ern auf: Man wird unmittelbar erkannt, erntet skeptische Blicke, offene Ablehnung, tiefe Verachtung und erzeugt Angst. Alle Zutaten für gelungene Rebellion. Sehr schlimm, wenn es unter Zwang geschieht, überaus funktional, wenn man die Öffentlichkeit und die eigenen Eltern provozieren möchte. Emanzipation und selbstbestimmte Abgrenzung, können das Motive sein?

Es kommt auf den Kontext an: Im Iran oder in Saudi-Arabien ist eine kopftuchtragende Frau eine anonyme Ameise im Ameisenhaufen; in Deutschland ist sie das auffällige schwarze Schaf. Daher sind die Motive für oder gegen religiöse Radikalisierung je nach Gesellschaft und Zeitgeist ganz unterschiedlich. In der salafistischen Szene gelten strenge Regeln für Mann und Frau – in traditionellen, kaum religiösen Familien häufig nur für das weibliche Geschlecht. Nicht ohne Grund erleben viele junge Frauen in dieser Jugendbewegung ein höheres Maß an Gleichstellung als in ihren zum Teil resignierten Herkunftsmilieus.

Frau mit Deutschland-Flagge auf einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot und "Pseudo-Pressefreiheit" in Deutschland. Foto: picture-alliance/dpa
„Das sind unsere Kinder“: Muslime sind Teil unserer Gesellschaft. Ob Rebellion oder Religion – diese Feststellung ist für El-Mafaalani kein Novum, sondern eine wichtige Erkenntnis, die in der Politik „handlungsleitend sein“ sollte.

Dass dies kaum jemand wahrhaben möchte, ist ein Beleg dafür, dass wir uns für diese jungen Menschen nicht interessiert haben. Nun ist es eine aufgekeimte internationale Jugendbewegung. Das sind junge Menschen, die – ohne sich zu kennen – Ähnliches tun. Das bedeutet, sie haben gleiche Erfahrungen, Problemstellungen und Bedürfnisse. Viele werden es nicht hören wollen: Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen auf der persönlichen Ebene, aber auch nationale und internationale Entwicklungen spielen zusammen. Muslime sind Feindbilder geworden. Sich über sie auszulassen, ist selbstverständlich. Das zwingt viele Muslime in eine defensive Haltung, in der sie klarstellen und zurechtrücken müssen – ein mühsames Geschäft, das einem niemand dankt und bei dieser Gemengelage vielleicht sogar zum Scheitern verurteilt ist. Die anderen, häufig kaum religiösen, aber als solche optisch wahrgenommenen „Fremden“ treibt es in die Offensive. „Wenn schon, denn schon“ oder „Jetzt erst recht!“

Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erlebnisse werden dann nationale und globale Ereignisse wahrgenommen. Muslime sind die Bösen, solange sie kein Buch gegen den Islam schreiben oder wichtige Geschäftspartner sind. In Syrien und dem Irak wird der „Westen“ erst richtig aktiv, als Nicht-Muslime bedroht oder ermordet werden. Das kann man je nach Betrachtungsweise interessengeleitete Politik oder strategielosen Aktionismus nennen, aber man darf sich nicht wundern, wenn das als unmoralisch und unglaubwürdig wahrgenommen wird. Die Welt(politik) steckt in einer Sackgasse.

„Ursprünglicher“ Salafismus als Zukunftsvision

Der Gegenentwurf der Salafisten ist denkbar einfach: In der Vergangenheit liegt der Generalschlüssel – eine neue Zukunftsidee gibt es nicht. Allerdings gibt es eine solche nirgendwo. Unsere Visionen sind bestenfalls technologischer Art. Soziale haben auch wir nicht mehr. Nicht einmal zukunftsweisende Jugend- oder Protestbewegungen lassen sich derzeit erkennen. Wir sind aufgeklärte Verwalter von Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Konsumterror. Wer diesen Pragmatismus nicht annehmen kann oder will, muss nostalgisch werden.

Neo-Puritanismus, Naturreligionen, Esoterik, Bio-Nahrung oder Yoga – alles Ich-bezogene Formen der Sinnsuche. Der Salafismus hat da für Orientierungsuchende eine kollektive Strategie aus einem Guss: Zurück in die Zeit, in der alles vermeintlich gut war, zurück zu den Wurzeln: Klare Regeln, eindeutige Zugehörigkeiten, unhinterfragbare Wahrheiten und gar der sichere Weg zum Paradies. Das sind Dinge, für die es sich – aus der Perspektive vieler Jugendlicher – einzusetzen lohnt. Das gibt eine starke Orientierung und kanalisiert den jugendtypischen Handlungsdrang in eine Richtung: Missionieren, ein göttlicher Auftrag. Wer heute mitmacht, der gehört zur Avantgarde eines sich selbst als progressiv verstehenden globalen Projekts.

Aladin El-Mafaalani. Foto: David Ausserhofer
Aladin El-Mafaalani ist Professor für Politische Soziologie in Münster. Seine Forschungsinteressen liegen an den Schnittstellen von Migration und Bildung, Sozialpolitik und Städteforschung. Er kritisiert die fehlenden Zukunftsvisionen von und für die Gesellschaft und versteht den Salafismus als Phänomen einer erträumten Vergangenheit: „Zurück in die Zeit, in der vermeintlich alles gut war (…): Klare Regeln, eindeutige Zugehörigkeiten (…) und gar der sichere Weg zum Paradies".

Diese fundamentalistische Bewegung hat für die meisten Jugendlichen einen gewissen Bezug zur eigenen Herkunft. Gleichzeitig wird die Religion deutlich strenger praktiziert, als es die eigenen Eltern tun. Und: Die Salafisten sprechen deutsch, viele als einzige Muttersprache! Schön war die Zeit, als wir uns noch einreden konnten, diese Ausländer sollen deutsch sprechen lernen und alle Probleme wären gelöst. Wie so häufig sind Konvertiten besonders engagiert, genießen aber auch einen besonderen Stellenwert. In ihnen steckt das größte Provokationspotenzial, wodurch sie für die Öffentlichkeitsarbeit unverzichtbar werden. Zugleich prallt der schräge Integrationsdiskurs an ihnen gänzlich ab. Diese Breitseite ist hausgemacht!

Strenge Kleiderordnung, reglementierte Sexualität und Konsumverzicht – in unserer Vorstellung muss das reines Gift für eine Jugendbewegung sein. Aber Askese und Nostalgie gepaart mit einem selbstbewussten kollektiven Auftreten bedeuten heute Rebellion. Mit einer eigenen Ästhetik und großer Technologieaffinität ist es dann doch keine vollständige Reproduktion des Gewesenen. Es gibt Alltagsrituale und große Events. Auch Islamseminare mit jugendspezifischen Inhalten werden angeboten. Es geht um Orientierung und Anerkennung, nicht um theoretische und theologische Diskurse. Dagegen sehen die großen Islamverbände blass aus: Sie sind Institutionen der Erwachsenen – konventionell, defensiv und langweilig.

„Das sind unsere Kinder“

Die historisch seltene Konstellation, als junger Mensch mit radikaler Askese und Nostalgie provozieren zu können, bietet einen Resonanzboden für ausgegrenzte Jugendliche, indem nämlich aus der Not eine Tugend wird. Wer nicht teilhaben kann oder sich ausgegrenzt fühlt, gibt nicht viel auf, wenn er sich einer radikalen Gruppe anschließt. Im Gegenteil: Aus dem Gefühl der Ohnmacht wird Selbstbestimmtheit und Stärke. Entsprechend lässt sich vermuten, dass ungleiche Teilhabechancen auf der einen und Islamfeindlichkeit auf der anderen Seite das Provokationspotenzial steigern und dadurch zu einer anhaltenden Attraktivität beitragen werden. Vor diesem Hintergrund spielen sich Salafisten, HoGeSa und PEGIDA die Bälle gegenseitig zu.

Wie Jugend und Provokation auf Dauer zu einer ultrakonservativen Strömung passen, bleibt zu beobachten. Abspaltungen sind wahrscheinlich. Diese kennen wir aus vielen Bewegungen. Wenige werden Terroristen, einige sympathisieren gewaltlos, die meisten bleiben ungefährlich.

Die Muslime innerhalb Europas zu isolieren, war ein zentrales Ziel der internationalen Terrorgruppen. Diese Strategie war bemerkenswert erfolgreich. Den Nährboden für Radikalisierungsprozesse auszutrocknen, ist eine große Herausforderung. Die Menschen und ihre Religion als Fremdkörper zu betrachten, war eine – wenn auch nicht die einzige – Ursache. Daher müssen zwei Erkenntnisse, die sich bereits in manchen Aussagen hochrangiger Politiker ausdrücken, handlungsleitend sein: „Das sind unsere Kinder“ und „Der Islam gehört zu Deutschland“ – in guten wie in schlechten Zeiten.

Aladin El-Mafaalani

© Qantara.de 2015

Aladin El-Mafaalani, Dortmunder, Professor für Politische Soziologie in Münster.