Kontrollverlust in der Ägäis
Die Lichter kommen näher und plötzlich ist es vorbei mit der Ruhe. Es ist drei Uhr morgens, als das portugiesische Frontex-Boot den Kai von Skala Sikaminea ansteuert. Es ist voll mit Menschen. Vor dem Führerhaus am Bug sitzen etwa ein Dutzend Männer. Ein Beamter richtet den Schein seiner Taschenlampe auf den Bereich am Heck. Im Kegel der Lampe erscheinen dicht gedrängt Frauen und Kinder. Einige von ihnen haben Rettungsdecken um sich geschlungen. Allen steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben.
Die Mütter und ihre Kinder gehen als erste von Bord. Eine junge Frau um die 20 Jahre alt, mit rotem Kopftuch und Turnschuhen, lächelt zaghaft. Sie wirkt erleichtert, als sie merkt, dass sie es tatsächlich geschafft hat. Sie steht auf europäischem Boden. Einer nach dem anderen kommt von Bord. Teilweise müssen sie gestützt werden. Ein Beamter übergibt einer Helferin ein Bündel. Das Baby darin fängt an zu schreien.
Ahmed aus Syrien war auch an Bord. Vier Jahre habe er in Istanbul gelebt, erzählt er. Dann habe man ihn illegal zurückgeschickt. "Zurück nach Syrien, in den Krieg." Sein nächster Fluchtversuch sollte weitergehen, nach Europa. Er spricht langsam und mit Bedacht. Hinter ihm leuchten die Lichter der türkischen Küste in der Ferne.
An dieser Stelle sind es nur zehn Kilometer von der Türkei bis nach Griechenland. Kurz vor 22 Uhr seien sie mit einem Gummiboot von dort aufgebrochen, erzählt Ahmed. Um zwei Uhr wurden sie schließlich vor der Küste von Lesbos gerettet. 32 Menschen haben mit ihm in dieser Nacht die gefährliche Überfahrt überstanden. Aber was als nächstes mit ihnen passiert, weiß keiner von ihnen.
Der Hölle entkommen
Rund 50 Minuten fährt man von hier mit dem Auto Richtung Süden, über die dicht bewachsenen Berge und entlang der Küste. Dann erreicht man schließlich den Ort, an dem fast alle Neuankömmlinge auf Lesbos landen: das Lager Moria. Ursprünglich wurde es für 2.000 Menschen eingerichtet. Im Rahmen des EU-Türkei-Deals sollte hier innerhalb von Tagen über den Status der Neuankömmlinge entschieden und sie zurück in die Türkei geschickt oder auf das griechische Festland gebracht werden.
Der Plan ist nicht aufgegangen. Heute leben hier rund 14.000 Bewohner. Der Großteil von ihnen nicht im Lager selbst, sondern in den benachbarten Olivenhainen in unwürdigen Zuständen. Dicht gedrängt steht hier Zelt an Zelt. Überall stapeln sich Müllsäcke, und seit einigen Tagen schon gibt es an dem notdürftigen Waschplatz kein fließendes Wasser mehr. In der Nacht kommt es immer wieder zu Gewalt. Viele Bewohner erzählen, dass sie in Angst leben. Das Lager sei für sie die reinste Hölle.
"Ich werde sie alle schrecklich vermissen"
Dementsprechend rar gesät sind die Momente des Glücks hier in Moria. Aber an diesem Nachmittag kommt es zu euphorischen Szenen am Eingang des Camps. Die kleine Kreuzung ist voll mit Menschen. Eine Gruppe junger Kongolesen feiert ausgelassen. Dutzende Frauen und Kinder stehen vor gepackten Taschen. An der Straße wartet ein Bus. Man umarmt sich. Es fließen aber auch Tränen. Glück und Trauer liegen an diesem Tag dicht beieinander.
So auch bei Raha Namiri. Die 24-jährige Afghanin wird mit etwa 200 weiteren Asylbewerbern von Lesbos auf das Festland gebracht. Ein Jahr hat sie mit ihrer siebenjährigen Tochter Ziba in Moria gelebt, sich auf der Insel in lokalen Projekten engagiert. Sie male und tätowiere, erzählt sie und lächelt dabei. Ihr großer Traum sei es, ihr eigenes Tattoo-Studio zu besitzen.
Raha Namiri unterscheidet sich von den meisten Frauen hier. Sie trägt kein Kopftuch, die rötlich getönten Haare sind offen, an der Nase hat sie zwei Piercings. In ihrer Zeit hier auf Lesbos habe sie viele Freunde gefunden, erzählt sie. "Ich werde sie alle schrecklich vermissen. Den ganzen Morgen habe ich nur geweint." Sie hört auf zu sprechen, schaut weg und hält sich die Hand vor den Mund, ringt um Fassung. Wenig später verschwindet die kleine Frau im Gedränge vor dem Bus, mit ihrer kleinen Tochter fest an der Hand.
Mit harter Hand gegen Migranten
Seit dem Wiederaufleben der Fluchtbewegungen auf die griechischen Inseln hat die Zahl solcher Transfers zugenommen. Aber noch übersteigt die Zahl der Ankommenden die der Abreisenden. Die neue konservative Regierung in Athen fährt seit kurzem einen Kurs, mit dem sie die Situation in den Griff bekommen möchte. Das Asylgesetz wurde verschärft und 20.000 Menschen sollen bis zum Ende des Jahres von den Inseln in der Ägäis auf das Festland gebracht werden.
Ein Kurs, den der stellvertretende Gouverneur der Region unterstützt. Dimitris Kursubas fordert, dass die Migranten, die an den Inseln ankommen, auf ganz Griechenland verteilt werden. "Die Situation ist nicht kontrollierbar, wenn hier ein Migrant auf fünf Einwohner kommt", sagt er. Früher war er der Polizeichef auf Lesbos.
In den 1990er Jahren habe man es schon mit Flüchtlingen hier zu tun gehabt, erzählt er. Die meisten kamen aus dem Irak und sind vor dem Golfkrieg geflohen. "Die waren verkrüppelt und verletzt. Die brauchten wirklich internationale Hilfe", erzählt Kursubas. Zu den Menschen, die heute kommen, hat er eine radikalere Haltung. Die wenigsten von ihnen benötigten seiner Meinung nach Asyl. "Mehr als 80 Prozent von ihnen sind Wirtschaftsflüchtlinge. Sie sollen in ihre Herkunftsländer zurück."
[embed:render:embedded:node:29884]Die Angst vor Abschiebung unter den Migranten ist groß. Die Regierung nennt die schleppende Bearbeitung von Asylverfahren als einen der Gründe, warum die Camps auf den Inseln überlastet sind. Das verschärfte Asylrecht soll das ändern. So müssen nun Fälle innerhalb von maximal sechs Monaten geprüft werden. Zuvor waren es neun. Bei abgelehnten Gesuchen müssen Bewerber aktiv Einspruch erheben, damit das Asylverfahren weiterhin Bestand hat. Migranten und Asylsuchende, die mit den Gesetzen nicht vertraut und mittellos sind, laufen nun schneller Gefahr abgeschoben zu werden.
Nicht nur mit drastischeren Gesetzen, sondern auch mit illegalen Mitteln soll die griechische Regierung versuchen, das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen. So sollen in den zwölf Monaten vor dem 1. November fast 60.000 Menschen illegal in die Türkei abgeschoben worden seien. Dies berichtet "Der Spiegel" unter Berufung auf Dokumente des türkischen Innenministeriums. Die sogenannten Pushback-Aktionen sollen an der griechisch-türkischen Landgrenze im Norden stattgefunden haben. Neuankömmlinge wurden demnach ohne ein entsprechendes Asylverfahren in die Türkei zurückgeschickt. Die griechische Regierung streitet das ab.
Reise ins Ungewisse
Für Raha Namiri allerdings geht es nicht zurück, sondern weiter. Das Ziel ihrer nächsten Etappe ist Athen. Es ist Abend und bereits dunkel, als ihr Bus am Fährterminal von Lesbos ankommt. Die Fähre steht bereit, über die Rampe fährt ein LKW in den hell ausgeleuchteten Bauch des Schiffs.
Raha wirkt gestresst, sie saß im letzten Bus, der von Moria losgefahren ist. Nun sucht sie ihre Sachen zusammen. Mehrere große Pakete in schwarze Mülltüten gehüllt sind dabei, zwei Rollkoffer und Einkaufstüten. Darin sind auch ihre Malereien, erzählt sie. Eigentlich viel zu viel, um damit zu reisen. Aber eine Freundin verlässt ebenfalls die Insel.
Die Frauen helfen sich gegenseitig. Ihre Tochter im Auge behaltend, schleppt sie ein Paket nach dem anderen immer ein paar Meter weiter bis zum Ende der Schlange. Aufgeregt sei sie im Moment, aber auch etwas besorgt um ihre Sachen. "Ich habe so viel dabei und bin allein mit meiner Tochter. Es ist schwer, aber ich schaffe das. Ich bin stark", sagt sie und lächelt.
Vor der Fähre lichtet sich der Platz. Raha und ihre Tochter gehören zu den letzten, die heute an Bord gehen. Langsam läuft sie die Stelling hoch, den großen Koffer hinter sich herziehend. Morgen früh wird sie in Athen ankommen. Wo es danach hingeht, weiß sie nicht. Nur so viel, sie will nie wieder zurück nach Moria.
Max Zander
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