"Wir müssen unsere Familien retten"
Es ist endlich mal ein guter Tag: Nicht zu heiß, um auf den Isomatten unter den Zeltplanen zu liegen, aber auch nicht zu kalt. Es gibt Klappstühle und kleine Campingtische, eine Wasserpfeife steht in der Ecke eines Zeltes. Was aussieht wie ein Ferienlager, hat einen ernsten Hintergrund: Seit über einem Monat protestieren hier in Dortmund Tag und Nacht syrische Flüchtlinge. Sie wollen, dass ihre Asylanträge endlich bearbeitet werden. Seit acht Monaten warten einige schon darauf - nicht drei Monate, wie ihnen versichert wurde.
"Wir müssen unbedingt unsere Frauen und Kinder vor dem Tod retten", sagt Fadi Khatib, ein syrischer Flüchtling aus Aleppo und Sprecher des Protestcamps. Solche Sätze stehen auch auf den vielen selbstbemalten Bannern, die zwischen den Bäumen und Laternen vor dem Camp aufgespannt sind, um die Passanten auf sich aufmerksam zu machen.
Alle Syrer im Camp sind Männer, etwa zwischen 30 und 50 Jahre alt. Den harten Weg der Flucht haben sie auf sich genommen, um ihre Frauen und Kinder auf sicherem und legalem Wege nach Deutschland zu holen - das ist die Botschaft ihres Protests. Viele schlechte Nachrichten sind seitdem eingetroffen. "Drei Familien sind in der Zeit des Protestes ums Leben gekommen, berichtet Fadi eindringlich. Das Haus seiner Schwester sei von einer Bombe zerstört worden, sie sei glücklicherweise zu der Zeit nicht anwesend gewesen. Aber seine Cousine und ihre Tochter seien auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken.
Zwischen IS und Assad
Genau deshalb klammern sich viele der Syrer in dem Camp an ihre Smartphones und starren auf die Bildschirme: Gibt es Neuigkeiten aus dem gefährlichen Heimatland? "Alle von uns haben Angst vor schlechten Nachrichten aus Syrien", sagt Sakher al-Mohamad, ein syrischer Journalist, der geflohen ist, weil der syrische Geheimdienst nach ihm gesucht habe.
"Bislang ist noch nichts passiert, aber wer weiß, was morgen ist?", fragt Sakher nachdenklich. Die Familien der meisten Flüchtlinge in dem Protestcamp in Syrien sind zwischen die Fronten des sogenannten "Islamischen Staates" und des syrischen Regimes geraten.
"Mir geht es noch am besten", sagt Fadi mit Nachdruck. Denn seine Familie lebt mittlerweile in der Türkei an der Grenze zu Syrien, und sein Asylantrag wurde vor einiger Zeit genehmigt. Acht Monate lang hat er darauf gewartet. Stellvertretend für alle anderen Flüchtlinge protestiert er weiter. Wieder und wieder betont Fadi seine verhältnismäßig gute Situation. Er will die Schicksale der anderen nicht schlechtreden. So wie das von dem Syrer Fadi Jabbour. Er gelangte mit seinem kranken Bruder und 50 anderen Flüchtlingen in einem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland. In Ungarn waren die Brüder dann einen Tag im Gefängnis.
Auch viele andere in dem Camp haben schreckliche Geschichten ihrer Flucht zu erzählen. Sie zeigen auf ihren Smartphones bedrückende Videos von Flüchtlingen, die in Ungarn geschlagen werden, angeblich weil sie nicht wollten, dass ihre Fingerabdrücke genommen würden.
Alltag mit Kaffee
Solche Eindrücke trüben die Stimmung in dem Camp. Denn die 50 Flüchtlinge, die immer über Nacht bleiben, sind trotz der schrecklichen Erlebnisse, die sie hinter sich haben, eigentlich gut gelaunt. Eine gewisse Alltagsroutine, die es auch an diesem Tag gibt, dient als Ablenkung. Die Kaffeemaschine läuft und zwei Syrer bereiten Hummus in kleinen Schalen vor. Im Camp wird wie jeden Tag gefegt: Im Bereich vor den Zelten und bei den Isomatten. Alles hat irgendwie seine Ordnung.
Diese klare Ordnung zeichnet auch den friedlichen Protest aus. Die Syrer agieren sehr professionell: Weit mehr als 3.000 Unterschriften haben sie mit ihrer Petition gesammelt, bei Facebook haben sie ihre eigene Seite "Syrians Sit-in Dortmund", die mehr als 5.000 Leuten gefällt und auf Arabisch, Englisch und Deutsch von dem Protest berichtet. Einige offizielle Gespräche mit Politikern aus Nordrhein-Westfalen gab es auch.
Polizeischutz rund um die Uhr
Mitte Juni hatten die Syrer vor der Außenstelle des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Dortmund demonstriert. Dann sind sie umgezogen. Das Protestcamp der Flüchtlinge liegt jetzt ganz zentral in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs. Es kommen ständig Leute vorbei, egal ob Schnäppchenjäger auf dem Weg zum Shoppen oder Reisende unterwegs zum Bahnhof.
Die Ruhrgebiets-Stadt Dortmund ist bundesweit bekannt für die sehr ausgeprägte rechte Szene und die vielen Demonstrationen der Neonazis. Die Polizei beschützt das Camp rund um die Uhr.
"Wir wollen nur Gerechtigkeit"
Mehr als ein paar pöbelnde Neonazis bleibt den Syrern zum Glück die Hilfsbereitschaft vieler Bürger in Erinnerung. Decken, Isomatten und Stühle - all das haben Helfer für das Camp mitgebracht. Organisiert haben sich die Freiwilligen meist über soziale Netzwerke. Unter dem Hashtag #protestbamfdo beim Kurznachrichtendienst Twitter gibt es Aufrufe wie "Achtung, am Protestcamp wird dringend ein neuer Wasserkocher gebraucht". Viel Zustimmung bekommt die Forderung der Syrer nach einer schnelleren Bearbeitung ihrer Asylanträge.
Vom zuständigen Bundesamt heißt es, dass "in einigen Fällen" die Anträge von syrischen Asylbewerbern nicht so schnell bearbeitet werden könnten. Besonders der hohe Anstieg der Asylbewerberzahlen aus dem Kosovo hätte das Bundesamt dazu gezwungen, diese Anträge zu priorisieren, so der BAMF-Sprecher Mehmet Ata. "Protestierende Flüchtlinge können wir bei der Bearbeitung der Asylverfahren nicht bevorzugen", erklärt Ata.
Fadi Khatib sieht das auch so: "Wir müssten eigentlich bevorzugt werden, weil es um Leben und Tod geht. Aber das wollen wir nicht." Die syrischen Flüchtlinge wollten nur gerecht behandelt werden und nicht acht Monate auf Asyl warten, sagt er. Damit sie das durchsetzen können, ist der nächste Schritt schon geplant: Das Protestcamp will demnächst nach Berlin ziehen.
Janina Semenova
© Deutsche Welle 2015