Sozusagen subkutan
Der Regen an Auszeichnungen, der in diesem Jahr auf die arabischen Literaturschaffenden niedergeht, erklärt sich mit dem demokratischen Aufbruch in der arabischen Welt – neben dem Goethe-Preis für Adonis ist im September der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis in Osnabrück für Tahar Ben Jelloun zu verzeichnen, im Oktober der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Boualem Sansal und im November der Hermann-Kesten Preis des PEN-Clubs für den ägyptischen Verleger Mohammed Hashim.
Fehlt nur noch der Literaturnobelpreis, und auch dafür ist Adonis ein heißer Kandidat. Als Dichter und Vorreiter der literarischen Moderne in der arabischen Welt hätte er ihn zweifellos verdient – ist aber das Jahr 2011 der beste Zeitpunkt dafür?
Adonis ist ein Ikonoklast und (literarischer) Revolutionär der alten Schule, und insofern hat Joachim Sartorius recht, wenn er in seiner Laudatio Adonis zugute hält, den arabischen Frühling "sozusagen subkutan" mit vorbereitet zu haben.
Zwischen der Verfallenheit an Gott und an die Technik
Adonis macht die Tradition, nicht zuletzt die religiöse, zum poetischen Spielmaterial für einen von Nietzsche und Heidegger inspirierten Aufbruchsgeist. Dieser klang auch in seiner Dankesrede in der Paulskirche an, als er beklagte, dass die arabische Mentalität zwischen der Verfallenheit an Gott und der Verfallenheit an die Technik gefangen sei.
Eine Rettung aus dieser verheerenden Alternative sei nicht in Sicht – es sei denn, vielleicht, in Form der Poesie. Das wäre vor einem Jahr eine akzeptable Deutung der arabischen Verhältnisse gewesen. Mittlerweile wirkt sie ein wenig gestrig. Hat sich denn im Lauf dieses Jahres gar nichts geändert?
Liest man die Äußerungen von Adonis über die arabischen Revolutionen und besonders über die blutigen Ereignisse in seinem Heimatland Syrien, erscheinen diese seltsam unentschlossen. In einem ersten Artikel im Mai fordert Adonis als international bekanntester Intellektueller seines Landes das Regime zur Streichung des Paragrafen Acht der syrischen Verfassung auf, der die Vorherrschaft der pseudo-sozialistischen Baath-Partei festschreibt.
Er beklagt die Versehrungen, die diese Einparteienherrschaft mit sich gebracht hat, vor allem die brutale, ideologisch motivierte Unterdrückung der ethnischen und religiösen Vielfalt, die jetzt wieder aufbreche, freilich in Form einer blutenden, nie verheilten Wunde. Adonis nennt ausdrücklich die Städte Deraa und Banyas ("die Quellen zweier Tränenflüsse"), die damals im Zentrum der Auseinandersetzungen standen.
Ungereimtheiten und Widersprüche
Für große Irritation unter der syrischen Opposition sorgte indessen, dass Adonis in diesem und weiteren Artikeln an die Reformierbarkeit des Staates von oben, auf Initiative des (törichterweise von ihm als "gewählt" bezeichneten) Präsidenten Assad zu glauben scheint. Doch eine echte Reform und damit eine freie Wahl des Präsidenten liefe unweigerlich auf die Selbstabschaffung des Regimes hinaus.
Nach über 2000 getöteten Demonstranten kann niemand mehr ernsthaft glauben, dass es dazu kommt. Entsprechend widersprüchlich sind denn auch die Äußerungen von Adonis. Am 5. August sagte er in einem langen Interview mit der kuwaitischen Zeitung Al-Ray': "Ich glaube, der Präsident ist fähig zu Reformen". Aber im selben Absatz heißt es auch: "Das Mindeste, was der Präsident tun kann, ist zurückzutreten."
Angesichts dieser Unentschiedenheit fühlt sich die syrische Opposition zu Recht im Stich gelassen. "Ich lebe in der Sehnsucht im Feuer in der Revolution im Zauber ihres schöpferischen Gifts / mein Land ist dieser Funke dieser Blitz in der Dunkelheit der kommenden Zeit" schrieb Adonis vor genau 40 Jahren in "Dies ist mein Name", einem seiner berühmtesten (in dem Band "Verwandlungen eines Liebenden" bei S. Fischer neu aufgelegten) Gedichte.
Jetzt, ein halbes Menschenleben später, ist die Zeit gekommen und die Revolution versprüht ihre Blitze. Aber Adonis traut der Angelegenheit nicht: Man könne bei den Ereignissen nicht von einer wirklichen Revolution sprechen, weil den Protestierenden ein klares, zukunftsweisendes Programm fehle, heißt es im selben Interview.
Damit spricht Adonis einen wunden Punkt an. Wer die Protestierenden sind und was sie wollen jenseits des kleinsten gemeinsamen Nenners, dem Sturz des Regimes, ist in Syrien noch weitaus unklarer als in den anderen im Umbruch befindlichen Staaten.
Angst vor Repressionen
Ein Grund für diese Unklarheit liegt auf der Hand: Die Antwort des Assad-Regimes auf die Proteste ist von schamloser Brutalität und hindert die Opposition mit allen Mitteln daran, sich zu formieren und ausreichend zu vernetzen. Die Exilopposition hingegen ist zu heterogen und hat keinen Einfluss auf die Ereignisse in Syrien selbst.
Eine Einmischung von außen wie in Libyen (das ohne diese Einmischung heute so aussähe wie gegenwärtig Syrien) wird von allen abgelehnt. Die Propagandastrategie des Regimes, die hauptsächlich darin besteht, die Opposition als von außen gesteuert, als radikalislamisch und als gewalttätig zu diskreditieren, scheint insoweit aufzugehen, als die Proteste noch nicht, wie etwa in Ägypten, alle Bevölkerungsschichten und Konfessionen gleichmäßig erfassen.
Besonders unter den syrischen Christen ist die Zurückhaltung offensichtlich. Sie haben Angst, sei es vor einer Machtergreifung radikaler Muslime, vor der auch Adonis warnt, oder vor irakischen Verhältnissen, das heißt religiöser Verfolgung und permanenten Attentaten angesichts einer zwar zivilen, aber machtlosen Regierung.
In dieser Hinsicht decken sich die Vorbehalte von Adonis nicht nur mit denjenigen vieler syrischer Christen, sondern auch vieler Revolutionsskeptiker in unseren Breiten. Einige Argumente, die Adonis dabei vorbringt, dürften von Anhängern der Protestbewegung in Tunesien und Ägypten geteilt werden und sind durchaus berechtigt.
Dazu zählt seine Forderung nach einer strikten Trennung von Staat und Religion ebenso wie nach einer echten Gleichberechtigung von Mann und Frau, welche zum Beispiel auch die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin am 11. August in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung einklagte, sowie die Forderung nach einem Ende der Diskriminierung religiöser Minderheiten.
Der entscheidende Unterschied zwischen Adonis und den säkular und emanzipatorisch orientierten Kräften in Nordafrika ist nicht inhaltlicher Natur, sondern beruht auf einem irritierenden Timing. Adonis äußert seine Vorbehalte gegen die Protestierenden, während diese erschossen und eingeschüchtert werden, bevor sie ihre Ansichten überhaupt richtig äußern können.
Und es mutet eigenartig an, die Verbesserung der Verhältnisse nicht mit der Abschaffung des ersten und offensichtlichsten Übels beginnen zu wollen, nämlich der Diktatur, sondern sie an Bedingungen zu knüpfen und den Unterdrückten zunächst einmal die rechte, und das heißt in diesem Fall die westlich-laizistische Gesinnung, vorschreiben zu wollen.
Herablassende Skepsis
Diese herablassende Skepsis gegenüber den Revolutionen ist aber nicht nur die von Adonis und anderen abgehobenen, sich in Maximalforderungen gefallenden Intellektuellen, sondern sie ist auch in Europa weit verbreitet, ja sie bildete bis weit in den arabischen Frühling hinein die Grundlage der offiziellen westlichen Politik.
Dieser Haltung mangelt es ebenso an Fantasie wie an Möglichkeitssinn. Sie gibt der Entwicklung keine Chance, nur weil sie eben Entwicklung und nicht immer schon fertig ist; und sie übersieht dabei eklatant, dass keine Position, selbst die emanzipierteste, frei von blinden Flecken und unaufgeklärten Zonen ist.
Die arabischen Protestler, ganz gleich welcher Couleur, haben ihren abgebrühten Kritikern immerhin voraus, an eine Verbesserung der Verhältnisse, eine Entwicklung, eine Zukunft noch zu glauben – sei es nur, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.
Adonis ist kein Anhänger des syrischen oder sonst eines diktatorischen Regimes. Aber er scheint wie so viele andere von der Entwicklung überraschte Autoren schlicht den Glauben an die Zukunft verloren zu haben. Sieht man sich die Geschichte der gescheiterten Utopien, Ideologien und Hoffnungen an, die seine Lebenszeit, immerhin 80 Jahre, geprägt haben, kann man dies sogar verstehen.
Bedauerlich ist es trotzdem, nicht zuletzt deshalb, weil wir die Stimme des Außenseiters, die Stimme des Dichters, die Stimme des Beobachters und Skeptikers mit gehörigem Abstand zu den Dingen durchaus bräuchten, eine Stimme, wie sie die von Adonis lange Zeit war (und wie sie, in ganz anderem Zusammenhang, bei uns etwa Peter Handke eingenommen hat).
Nicht diese Rolle, nicht diese Distanz, nicht diese Skepsis wären zu kritisieren. Sondern auf ihr zu beharren in einer Zeit der Kopfschüsse auf unbewaffnete Demonstranten, der Toten, die nicht ordentlich begraben werden dürfen, der Folter und der höhnischen Propaganda eines Regimes, das den einmal geschlossenen Pakt mit dem Teufel selbst dann nicht mehr lösen kann, wenn es dies wider alle Wahrscheinlichkeit wollte.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2011
Der Literaturkritiker Stefan Weidner ist deutscher Übersetzer von Adonis' Werken. Zuletzt erschien bei S. Fischer: "Adonis. Verwandlungen eines Liebenden. Ausgewählte Gedichte".
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de