Der Frust einer ganzen Generation
Ob in den Straßen Kairos oder den Banlieues von Paris: Junge Araber sind überall mit Repressionen, Rassismus und Armut konfrontiert. Das Album Who Are We bringt diese Realität zum Ausdruck. Mal melodisch, mal ruppig, nimmt das Album die Hörer in diese Realität des Lebens junger Araber mit – von der Hektik und Energie der Straße bis hin zur Wut über die ungleichen Lebensbedingungen zwischen einer kleinen Elite und der großen Mehrheit.
Al-Qasar ist in den letzten Jahren vor allem live aufgetreten. Von einer EP abgesehen, ist Who Are We das erste Album der Band. Im Kern besteht die Gruppe aus Thomas Attar Bellier (elektrische Saz - eine Langhalslaute -, Gitarre und Keyboards), Jaouad El Garouge (Gesang und Perkussion), Guillaume Théoden (Bass und Subbass), Nicolas Derolin (Perkussion) und Paul Void (Schlagzeug). Für das Album wird die Band von internationalen Musikern begleitet. Das verwundert nicht, denn Bandleader Thomas Attar Bellier hat bereits überall auf der Welt gearbeitet. Er hat Verbindungen in die Vereinigten Staaten, den Nahen Osten, Nordafrika und Europa. Das verschafft der Band Zugang zu einer großen Vielfalt von Gastmusikern.
Es dürfte nicht viele Alben geben, bei denen Lee Renaldo, Gitarrist der amerikanischen Punkband Sonic Youth, Jello Biafra, ehemaliger Kopf der amerikanischen Punkband The Dead Kennedys, und die ägyptische Sängerin Hend Elrawy mitwirken. So leistet Renaldo mit seinem Gitarrenspiel bei den ersten beiden Titeln Awtar Al Sharq und Awal einen markanten Beitrag.
Awtar Al Sharq eröffnet das Album zunächst als Instrumentalstück und bietet einen Vorgeschmack darauf, was die Hörer erwartet.
Den Auftakt zu dem, was die Band als Arabian Fuzz bezeichnet, macht Renaldo mit seiner verzerrten Gitarre – wozu sich dann die elektrische Saz von Bellier gesellt.
Gescheiterte Hoffnungen
Die Synthese aus der schrillen Gitarre und dem sauberen, gezupften Klang der Saz ist ebenso spannend wie schockierend.
Fast meinen wir, eine einzelne Stimme zu hören, die durch den Lärm im Hintergrund hindurch versucht, uns etwas Wichtiges mitzuteilen.
Auch bei Awal, dem zweiten Titel, wird die Band von Renaldo unterstützt. Er sorgt für die kraftvolle Klangkulisse, vor der Sänger El Garouge in Texten und Rhythmen auf seine Berber- und Gnawa-Herkunft zurückgreift.
Er verurteilt all die verlogenen Worte und Taten der arabischen Führer – ein sprichwörtlicher Abgesang auf die gescheiterten Hoffnungen der Generation des Arabischen Frühlings.
"Worte, Worte / Wahrheit oder Lüge? Ich werde noch verrückt. / Wer von uns hätte das gedacht? Lüge und Verleumdung. / Alle Hoffnung ist verloren.“
Ya Malak ("Du Engel"), der dritte Titel des Albums, prangert auf Arabisch einen unbekannten Feind an: Einen Feind, der die Armen und Unterdrückten für seine Zwecke ausnutzt. "Letzte Nacht kam der Feind unter Waffen zu dir. / Mörderischer Feind. / Feind, der die Wunden weiter aufreißt.“
Dieser Track enthält auch den einzigen englischsprachigen Text auf der CD. In den letzten zwei Minuten des Songs rezitiert Jello Biafra aus einem Stück des ägyptischen revolutionären Dichters Ahmed Fouad Negm. Der Refrain des Gedichts "Who are you and who are we“ verleiht dem Album seinen Titel. Biafra wiederholt ihn wieder und wieder, während er mit den Worten des Dichters die Hörer darüber nachdenken lässt, wo genau sie in der Hierarchie der Dinge stehen.
Biafra legt schonungslos die Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Schichten bloß, indem er aufzählt, wie sich das eine Prozent an der Spitze von denjenigen unterscheiden, die eben dieser Elite das Essen auf den Tisch bringen oder deren Häuser bauen. An der Musik oder den Texten dieses Titels ist nichts Subtiles. Es ist schlicht eine bittere Botschaft über eine ungerechte Welt.
Zwei Gastsängerinnen bereichern mit ihren wunderbaren Stimmen das Album: Zum einen die in New York lebende sudanesische Sängerin Alsarah von Alsarah & The Nubatones sowie die ägyptische Virtuosin Hend Elrawy. In Hobek Thawrat ("Deine Liebe ist Revolution") singt Alsarah ein Lied über den Militärputsch 2019 in ihrem Heimatland Sudan und die darauffolgenden Aufstände. Einige Passagen klingen wie aus einem Liebeslied. Dass der Song politisch ist, wird klar, sobald wir den Refrain hören. Es sind Slogans, die während der Demonstrationen skandiert wurden - "Keine Partnerschaft [mit dem Militär], keine Verhandlungen, keine Kompromisse“.
Bollwerk der Hoffnung und Lebensfreude
Der Song Mal Wa Jamal ("Geld und Schönheit") – gesungen von Hend Elrawy – ist der wohl subversivste Song des Albums. Er vermittelt einen einfühlsamen Einblick in das Leben und die Geschichte der Prostitution aus der Sicht einer Frau. "Das Glück hat dich verlassen / Dein zierlicher Körper / Der schlicht zur Ware wurde.“ Ein ergreifender Song, der verdeutlicht, wie die Gesellschaft ohne jede Hemmung aus dem Körper der Frauen eine verfügbare Ware macht.
Doch die Band bringt nicht nur ernste Themen, wie die Hommage an das algerische Viertel von Paris zeigt, wo ein wesentlicher Teil der Musik entstand. Barbès vermittelt eine ausgelassene Stimmung. Der Titel beschreibt die Lebendigkeit eines Viertels, in dem Menschen gemeinsam ein Bollwerk voller Hoffnung und Lebensfreude gegen die Verzweiflung bilden.
Who Are We von Al-Qasar ist ein bisweilen explosives Musikalbum voller Energie, das traditionelle arabische Musik mit zeitgenössischer Punk- und Rockmusik verbindet. Die Musik und die Texte handeln vom alltäglichen Kampf gewöhnlicher Menschen, die trotz einer repressiven und korrupten Elite einfach nur überleben wollen. Es ist ein wunderbares Album mit großartiger Musik und pointierten Texten, das geradezu danach ruft, in arabischsprachigen Vierteln weltweit immer und immer wieder gespielt zu werden.
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers