Antakya kommt zurück
Was die Einwohner von Antakya besonders verärgert, sind Sätze wie: "Es soll eine sehr schöne Stadt gewesen sein. Schade, dass ich sie nicht vor dem Erdbeben besucht habe.“ Das berichtet der Psychiater Professor Selçuk Candansayar, der im April einige Zeit in der zerstörten Stadt verbracht hat.
Er teilt die Bewunderung für Antakya mit vielen anderen Menschen, die die Stadt kennengelernt haben. Candansayar war öfter in der Stadt, bevor die Erdbeben am 6. Februar den Süden der Türkei und den Norden Syriens erschütterten. Über 50.000 Menschen verloren dabei ihr Leben. Er ist wie viele andere davon überzeugt, dass Antakya – mit seinem reichen Erbe, seiner Geschichte und seinen Menschen – wieder aufstehen wird.
Wer Antakya vor den Erdbeben besucht hat, wird eine besondere Verbindung mit der Stadt gespürt haben, nachdem er die fröhliche, lebendige Atmosphäre in den Straßen erfahren konnte. Diese Fröhlichkeit ist Teil des historischen Erbes der Stadt. Eindrucksvoll verdeutlicht dies ein berühmtes Mosaik aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., das ein Skelett mit einer Trinkschale in der Hand zeigt. Die altgriechische Inschrift rät: "Sei fröhlich und genieße das Leben“. Das Mosaik wurde 2012 bei Bauarbeiten entdeckt.
Stadt mit langer, wechselvoller Geschichte
Antakya ist der heutige Name der antiken Stadt Antiochia, die um 300 v. Chr. im Südosten der heutigen Türkei errichtet wurde. Als "Kreuzpunkt der Zivilisationen“ ist sie für ihre überaus vielseitige Küche bekannt. Sie ist Heimat für Menschen verschiedener Konfessionen und Religionen und zieht Touristen ebenso an wie Pilger.
Antakya ist zudem die Heimat des "Chors der Zivilisationen“ (Medeniyetler Korosu), der sich aus Angehörigen der alevitischen, sunnitischen, katholischen, orthodoxen, armenischen und jüdischen Gemeinschaften in der Türkei zusammensetzt. Der Chor singt in zwölf verschiedenen Sprachen, darunter Türkisch, Aramäisch, Arabisch, Hebräisch, Armenisch, Kurdisch und Griechisch. Sieben Mitglieder des Chors verloren bei den Erdbeben ihr Leben.
Die Lebensfreude, die vor dem Erdbeben in Antakya herrschte, ist mittlerweile tiefer Trauer gewichen. In einem Tweet zieht ein Überlebender namens Sergen einen Vergleich zwischen der heutigen und der ehemaligen Stadt. Hierzu legt er Videoaufnahmen übereinander: Zum einen vom lokalen Straßenkünstler Cem Demirel, der inmitten der Trümmer Gitarre spielt.
Zum anderen von Menschen, die vor der Katastrophe auf der Straße feierten. Beide Szenen wurden am selben Ort gedreht. "Wir waren sehr glücklich in Antakya. Die Menschen, die wir verloren haben, waren lebensfroh und ausgelassen... Wie viele Menschen auf der Welt können behaupten, ihre Stadt begraben zu haben?“, heißt es im Tweet.
Trotz der tiefen Trauer ist der starke und unbeugsame Wille der Einwohner zu spüren zusammen mir ihrem unbändigen Wunsch, die Stadt wieder aufzubauen. Unmittelbar nach den Erdbeben gründeten Einwohner mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen mit dem Ziel, ihre geliebte Stadt wiederaufzubauen. Samt der Denkmäler und Orte, die einen unverrückbaren Platz im kollektiven Gedächtnis einnehmen.
Antakya hat im Laufe seiner Geschichte mehrere schwere Erdbeben überstanden. Die Stadt ist stets aus ihren Trümmern erstanden. Darauf verweisen Einwohner und Bewunderer der Stadt immer wieder und ziehen daraus Hoffnung für die Zukunft.
Hastige Räumungsarbeiten drohen das Erbe zu zerstören
Die Menschen sind sich allerdings bewusst, dass der Wiederaufbau der Stadt nicht einfach sein wird. Zumal die wenig durchdachten und übereilten Pläne der Regierung bislang keine Beteiligung der Bevölkerung vorsehen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai vor Augen, hat die Regierung versprochen, die Stadt innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen.
Mehr als 20 zivilgesellschaftliche Organisationen in Antakya antworteten auf die Pläne der Regierung mit der Erklärung, eine überstürzte Räumung der Trümmer werde das kulturelle Erbe der Stadt beschädigen. Die Einwohner fordern, die Trümmer unter Aufsicht von Experten zu beseitigen. Sie verweisen darauf, dass historisches und wertvolles Baumaterial wiederverwendet werden könne, beispielsweise Originalmauern, Steine und historische Türen.
Die Einwohner von Antakya machten kürzlich mit einer Menschenkette auf ihr Anliegen aufmerksam. Sie trugen ein Transparent, auf dem stand: "Dies ist unser Erbe, kein Schutt“.
Eine einzigartige multikonfessionelle Gemeinschaft
Antakya kann aus einem einzigartigen Erbe schöpfen. Es ist die größte Stadtgemeinde in der Provinz Hatay. Im historischen Wappen von Hatay finden sich Kreuz, Halbmond und Davidstern wieder, die auf die enge Nachbarschaft historischer Moscheen, Synagogen und Kirchen verweisen: Sie alle sind bei den Erdbeben eingestürzt.
So wurden auch Kuppel, Minarett und Mauern der Habib-i Neccar Moschee zerstört. Sie gilt als eine der ältesten Moscheen Anatoliens. In der ehemaligen christlichen Kirche und heutigen Moschee befindet sich das Grab des christlichen Märtyrers Habib-i Neccar.
Eine Inschrift in türkischer Sprache bezieht sich auf die Namen der Apostel Paulus und Johannes sowie zwei Sarkophage in der Nähe. Laut Neuen Testament (Apg 11,26) wurden die Jünger der noch jungen Glaubensgemeinschaft in Antiochia erstmalig Christen genannt. Die griechisch-orthodoxe Kirche St. Peter und Paul sowie die protestantische Kirche, die in den 1920er Jahren erbaut wurde und als französische Botschaft diente, bevor man sie zu einer Kirche umwidmete, wurden beschädigt und können nicht mehr genutzt werden.
Neben diesen sakralen Gebäuden liegen auch die historischen Gebäude in der Kurtuluş-Straße – der antiken Herodesstraße – und ihrer Umgebung in Trümmern. Sie gilt weltweit als erste Straße, die beleuchtet wurde. Das bekannte Affan Café in der Kurtuluş-Straße ist ebenfalls schwer beschädigt. Als eines der Symbole der Stadt hatte es sich tief in das Gedächtnis von Einheimischen und Besuchern eingegraben. Der historische Uzun-Basar (Sûk it-Twîl) zwischen der Kurtuluş-Straße und dem Fluss Orontes ist ebenfalls verschwunden.
Die Einwohner Antakyas treibt die Sorge um, dass ein übereilter Wiederaufbau ihrer Stadt nicht nur deren einzigartigen Charakter gefährden könnte, sondern auch die vielfältigen gewachsenen Gemeinschaften beschädigen könnte. Besondere Sorge bereitet ein am 5. April erlassenes Dekret des Staatspräsidenten, mit dem die Kurtuluş-Straße und die umliegenden Gebiete einem Gesetz unterworfen wurden, das allgemein als Gesetz zur Gentrifizierung gilt.
Stadtplanerin Vildan Kaya, die mit der Umsetzung dieses Gesetzes vertraut ist, erklärte gegenüber Qantara.de, das Gesetz habe bisher nirgendwo in der Türkei zur Erhaltung des kulturellen Erbes beigetragen.
"Vor allem in Istanbul hat die Anwendung dieses Gentrifizierungsgesetzes der Stadt geschadet. Es sind neue, hohe und teure Gebäude entstanden, denen der ursprüngliche Charakter fehlt. Das soziale und kulturelle Miteinander fiel unter den Tisch. So sieht keine verantwortliche Stadtplanung aus. Die ehemaligen Bewohner dieser Gebiete wurden gezwungen, ihre Häuser und ihr angestammtes Zuhause zu verlassen“, so Vildan Kaya.
"Wir kommen zurück“
Die Anwaltskammer der Stadt sieht das genauso und stellte das Präsidialdekret am 28. April im Staatsrat zur Diskussion. Die Kammer verwies darauf, dass die Eigentumsrechte der ehemaligen Bewohner bedroht seien und dass Antakya Gefahr laufe, seines kulturellen Erbes beraubt zu werden.
Was die Schönheit Antakyas ausmache, sei das ausgeprägte gesellschaftliche Gefüge, der soziale Zusammenhalt und die Bevölkerungsvielfalt, meinte Emre Can Dağlıoğlu, Redakteur bei der Online-Plattform Nehna (arabisch "Wir“), die das Bewusstsein für die besondere Identität Antakyas wachhält.
"Seien wir ehrlich: Die jüdischen und christlichen Gemeinden sind bereits geschrumpft. Wir sollten Wege finden, wie wir alle Gemeinschaften in die Stadt zurückbringen“, sagte er gegenüber Qantara.de. "Andernfalls könnte der Wiederaufbau von Antakya auf die historischen Gebäude beschränkt bleiben. Doch es ist auch die Demographie, die wir schützen müssen“, so Dağlıoğlu.
Die Menschen in Antakya wollen zurückkehren und ihre Stadt wiederaufbauen. Dafür steht der Schriftzug, der mittlerweile an vielen Mauern der Stadt zu finden ist: "Wir kommen zurück“.
© Qantara.de 2023
Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Gaby Lammers.