Die Schatten des kolonialen Erbes
Ein algerisches Gesetzesvorhaben, das die ehemaligen Kolonialverbrechen Frankreichs strafrechtlich ahnden soll, sorgt für neuerliche Spannungen im ohnehin belasteten französisch-algerischen Verhältnis. Einzelheiten von Bernhard Schmid
Wie kompliziert sich das Verhältnis Frankreichs zu seiner früheren Kolonie Algerien gestaltet, konnte man jüngst auch wieder vor den französischen Regional-Parlamentswahlen vom 14. und 21. März dieses Jahres erfahren.
Der rechtsextreme Front National hatte nämlich das Motiv des Schweizer "Stop!"-Plakats zur Volksabstimmung über ein Minarettverbot übernommen und geringfügig verfremdet.
Es zeigt – neben der Abbildung einer tief verschleierten Frau und den raketenförmigen Minarettsymbolen, die sich auf dem Schweizer Original finden – auch ein Hexagon, also die sechseckige Silhouette des französischen Staatsgebiets, das vollständig von den Farben sowie dem Stern- und Halbmondsymbol der Nationalfahne Algeriens überdeckt ist.
Alle diese Symbole sollen die These der extremen Rechten untermauern, dass insbesondere die Einwanderung von Migranten aus Nordafrika mit einer "Invasion" vergleichbar sei.
Gegen dieses Hetzplakat erstatteten mehrere antirassistische Organisationen Strafanzeige. Mit Erfolg: Einen Tag vor Eröffnung der Wahlen wurde es gerichtlich verboten.
Vorwurf des Missbrauchs nationaler Symbole
Doch der Streit hatte bereits internationale Ausmaße angenommen: Die algerische Regierung protestierte offiziell in Frankreich gegen den Missbrauch ihrer Nationalsymbole. Und das französische Außenministerium sah sich zu einer offiziellen Stellungnahme veranlasst, in welcher es sich gegen diese "unwürdige Verwendung" der algerischen Nationalfahne aussprach.
Die Spitze des Front National wiederum reagierte darauf mit heftigen verbalen Ausfällen gegen diese "ausländische Einmischung" in Frankreich.
Aufgrund des langwierigen und konfliktträchtigen Entkolonialisierungs-Prozesses in Algerien, des Unabhängigkeitskriegs von 1954 bis 1962, sowie der Existenz einer "Vertriebenenlobby" früherer europäischer Algeriensiedler, der "Pieds Noirs" in Frankreich, liefert der Rassismus gegen Algerier dort den wohl sensibelsten Resonanzboden.
Auf algerischer Seite droht man dagegen damit, dass französische Täter aus den Tagen der Kolonialkriege und Kolonialverbrechen womöglich strafrechtlich verfolgt werden.
Dies wünscht sich zumindest der algerische Parlamentarier Moussa Abdi. Der Abgeordnete der früheren Einheitspartei FLN legte nicht nur am 13. Januar dieses Jahres einen Gesetzentwurf in der "Nationalen Volksversammlung" in Algier vor, der eine "Kriminalisierung des Kolonialismus" zum Gegenstand hatte. Inzwischen unterstützen 125 von insgesamt 389 Abgeordneten der Volksversammlung diesen Entwurf.
Juristische Konsequenzen
Falls ein solches Gesetz tatsächlich verabschiedet würde, hätte dies die Einrichtung von Sondergerichten zur Folge, die Urteile gegen die damaligen politischen oder militärischen Verantwortlichen auf französischer Seite aussprechen könnten.
Und dafür versucht Abdi nun auch Verbündete in anderen ehemaligen französischen Kolonien zu gewinnen. Vor einigen Monaten hielten sich algerische Abgeordnete in Vietnam auf, Teil der früheren französischen Kolonie "Indochine" auf, um für dieses Anliegen zu werben.
Doch warum übt die algerische Seite ausgerechnet jetzt solch starken politischen Druck aus, um auf eine Anerkennung früherer französischer Kolonialverbrechen zu drängen? Eine der Ursachen liegt gewiss darin, dass die algerische Seite sich schlecht behandelt fühlt.
So ist man in Algier noch immer verstimmt über die Äußerungen des französischen Innenministers Brice Hortefeux anlässlich des vereitelten Attentatsversuchs eines 23jährigen Nigerianers auf einen Linienflugzeug nach Detroit vom vergangenen Jahr:
Damals erklärte Hortefeux, dass bereits seit April 2009 Angehörige von insgesamt sieben so genannten "Risikostaaten" auf französischen Flughäfen systematisch verstärkten Kontrollen und Leibesvisitationen unterzogen würden. Zu den Ländern zählte er neben Afghanistan, Pakistan und Mali auch Algerien.
Dies stellt insofern einen Affront dar, da die Aktivitäten islamistischer Terroristen in Algerien im Vergleich zum Zeitraum vor 15 Jahren auf einen winzigen Bruchteil zurückgegangen sind.
Auch wenn es dort noch immer zu einzelnen spektakulären Attentaten kommt, so haben die radikalen Islamisten schon seit einem Jahrzehnt die Kraftprobe mit der algerischen Staatsmacht im Verlauf des blutigen Bürgerkriegs zwischen 1992 bis 1999 verloren.
Flucht aus der Verantwortung
Belastet wurde das französisch-algerische Verhältnis ohnehin durch ein französisches Gesetz vom 23. Februar 2005, das den Umgang mit der nationalen Kolonialgeschichte zum Gegenstand hatte. Sein besonders umstrittener Artikel 4 schrieb Lehrkräften und Wissenschaftlern vor, in Forschung und Lehre "die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee und besonders in Nordafrika" zu betonen.
Erst Anfang 2006 ließ der damalige Präsident Jacques Chirac diesen Artikel schließlich für verfassungswidrig erklären und streichen, weil der Inhalt der schulischen Lehrprogramme nicht Sache des Gesetzgebers sei. Zuvor hatte das Gesetz bereits schon in den ehemaligen französischen Kolonialgebieten in der Karibik für erhebliche Irritationen gesorgt.
Doch besonders in Algerien, wo unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 300.000 und eine Millionen Menschen im Kolonialkrieg starben, hat man diese Episode nicht vergessen. Der gegenwärtige Gesetzentwurf im algerischen Parlament ist daher auch als eine späte Antwort hierauf zu sehen.
Aber auch die Tatsache, dass das rechte Regierungsbündnis Italiens – im Gegensatz zu Frankreich – in jüngster Zeit seine eigenen Kolonialverbrechen in Libyen anerkannt hat, dürfte einer der Beweggründe für die algerische Seite gewesen sein. Tatsächlich hat Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi im August 2008 sowie im Juni 2009 die Verbrechen seines Landes während der Kolonialzeit in Libyen offiziell anerkannt.
Das gegenwärtig angespannte algerisch-französische Verhältnis dürfte aber auch auf die schwierigen Wirtschaftsbeziehungen beider Staaten zurückzuführen sein. Frankreich ist nach wie vor der Hauptlieferant für Konsumgüter nach Algerien, wohingegen es bereits seit 1990 als größter Kunde für algerische Exporte ausschied. Frankreich hat damit seine lange relativ führende ökonomische Rolle in dem nordafrikanischen Land aufgegeben.
Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass Frankreich das maghrebinische Land primär als Rohstofflieferant und Absatzmarkt für seine Produkte betrachtet – und nicht als Ort für nachhaltige Investitionen.
Bernhard Schmid
© Qantara.de 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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