Ein Tabu bröckelt

In manchen Regionen des Nahen Ostens werden Frauen bei einer außerehelichen Schwangerschaft um der "Familienehre" willen getötet. Jenseits der rigiden gesellschaftlichen Normen wandelt sich das Bewusstsein.

Von Martina Sabra

Vor allem in den Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien wurden in den vergangenen Jahren Unterstützungsangebote für ledige Mütter geschaffen. Und in Ägypten sorgt der Fall eines prominenten unehelichen Kindes für eine bemerkenswerte öffentliche Diskussion.

Mann und Frau - zum Sex gehören normalerweise zwei. Doch wenn der Beischlaf ohne Trauschein stattfindet und dabei auch noch ein Kind entsteht, werden in streng patriarchalen Gesellschaften vor allem die Frau und das Kind für den 'Fehltritt' bestraft.

Diese Art Doppelmoral - die bis vor wenigen Jahren auch in Europa einschließlich Deutschland herrschte – hat jetzt in Ägypten einen kleinen Skandal ausgelöst: Die ledige Mutter Hend El-Henawy forderte den Schauspieler Ahmed El-Fishawi öffentlich auf, sich als Vater ihrer 15 Monate alten Tochter Lina zu bekennen.

El-Fishawi gab zwar öffentlich zu, dass er als Vater in Frage komme, kündigte aber gleichzeitig an, dass er das Kind auf keinen Fall formell anerkennen würde, da er mit der Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung nicht offiziell verheiratet gewesen sei.

Wenn El-Fishawi bei seiner Version bleiben sollte, wäre das Kind Lina unehelich und hätte wesentlich weniger Rechte als "normale" ägyptische Kinder. Die Mutter könnte im schlimmsten Fall wegen Prostitution angeklagt werden.

Die ägyptische Öffentlichkeit zeigte sich gespalten. Heimlich schoben jedoch viele der Kindsmutter die Verantwortung für den peinlichen Streit zu. "Sie hätte das Kind doch zur Adoption freigeben oder abtreiben können", meint eine Studentin freimütig und gibt damit eine nicht nur in Ägypten gängige Auffassung wieder.

Hohe Dunkelziffer unehelicher Kinder

Nicht verheiratet, aber schwanger – das ist in der arabischen Welt immer noch streng tabu. Die politisch Verantwortlichen behaupten fast durchweg, das Problem existiere nicht. Doch die Zahl der Kinder, die in einigen Ländern ausgesetzt oder zur Adoption freigegeben werden, spricht eine andere Sprache, ebenso wie die Masse an Vaterschaftsklagen.

In Ägypten sollen nach Angaben der Frauenrechtsorganisation "Women Living Under Muslim Law" zurzeit rund 14.000 derartige Gerichtsverfahren laufen. Da unverheiratet schwangere Frauen fast überall in der arabischen Welt unter Prostitutionsverdacht stehen, ihnen also Geld- und Gefängnisstrafen drohen, versuchen viele Betroffene, "ihr Problem" heimlich zu lösen.

Man geht von einer signifikanten Dunkelziffer aus, mit den entsprechenden Risiken für Mutter und Kind. Die marokkanische Sozialanthropologin Jamila Bargach beschreibt in ihrem bereits 2002 erschienenen Buch über Kindesaussetzung und heimliche Adoption in Marokko unter anderem, wie sich die Problematik durch den sozioökonomischen Wandel verschärft hat.

Solange Mädchen sehr jung verheiratet wurden, waren außereheliche Schwangerschaften kein großes Thema. Wenn es passierte, wurde die Angelegenheit meist diskret von Müttern und Tanten geregelt. Man schickte die Schwangere in den letzten Monaten zu Verwandten und brachte das Baby nach der Geburt irgendwie unter. Hauptsache, das Ganze wurde nicht publik.

Heute sind die Rahmenbedingungen völlig anders: die meisten Frauen im Maghreb heiraten erst mit Mitte oder sogar Ende zwanzig. Gleichzeitig können aufgrund von Landflucht und Urbanisierung immer weniger Frauen auf funktionierende familiäre Netzwerke zurückgreifen. Für Jamila Bargach sind die Leidtragenden vor allem die Kinder: "Uneheliche Kinder werden stigmatisiert, ausgegrenzt und durch Gesetze diskriminiert. Ihre Menschenrechte werden missachtet."

Hilfen für Schwangere

Lange Zeit boten hauptsächlich christliche Missionsschwestern oder internationale Organisationen wie Terre des Hommes unverheirateten Schwangeren im Maghreb eine Zuflucht. Mittlerweile gibt es in Marokko, Algerien und Tunesien einige "autochthone" Hilfsangebote.

In Casablanca finden unverheiratete Schwangere neben Terre des Hommes bei der marokkanischen Nichtregierungsorganisation INSAF umfassende Beratung und für die Zeit kurz vor und nach der Entbindung auch eine Unterkunft. Bei der ebenfalls in Casablanca ansässigen Selbsthilfeorganisation Solidarité Féminine können ledige Mütter mit etwas Glück über die Beratung hinaus eine Ausbildung, eigenes Einkommen und Kinderbetreuung erhalten.

In Algerien beraten mehrere unabhängige Frauenorganisationen ledige Mütter in Not und bieten im Notfall ebenfalls Unterkunft an. In Tunesien ist das Angebot am weitesten entwickelt: hier können junge Frauen nach der Entbindung mit ihren Kindern in staatlichen Mütterheimen unterkommen.

Von den Staaten der Arabischen Liga hat Tunesien durch fortschrittliche Familien-, Adoptions- und Namensgesetze uneheliche Kinder am weitesten gleichgestellt und parallel das dichteste soziale Netz für ihre Mütter geknüpft.

Bemerkenswerte Studie

Ansonsten geht bislang Marokko bemerkenswert offensiv mit dem Tabu-Thema um. 1996 veröffentlichte eine unabhängige marokkanische Hilfsorganisation zum ersten Mal Statistiken, wonach im größten Krankenhaus von Casablanca durchschnittlich fünf Prozent der Gebärenden ledig waren – ein überraschend hoher Anteil.

Die bis dato umfassendste Studie wurde im Frühjahr 2003 von der Stadtverwaltung Casablanca mit Unterstützung der UN sowie marokkanischer Nichtregierungsorganisationen fertig gestellt. Über einen Zeitraum von sechs Jahren interviewten die Forscher im Großraum Casablanca insgesamt 5040 unverheiratete Mütter, von denen 3240 ihre Kinder selbst aufzogen. 1800 Frauen hatten ihre Kinder nach der Geburt zur Adoption freigegeben.

Die durchschnittliche ledige marokkanische Mutter ist der Studie zufolge 26 Jahre alt, in vier von fünf Fällen in städtischem Milieu geboren und aufgewachsen und entstammt tendenziell der Unter- bzw. unteren Mittelschicht. Sie hat viele Geschwister, und das Familienoberhaupt ist meist entweder Bauer, Arbeiter und Kleinhändler.

Jede dritte Betroffene ist vaterlos. Fast die Hälfte (45 Prozent) der ledigen Mütter haben keine Schule besucht, der Rest hat höchstens die Mittlere Reife. Nur sehr wenige unverheiratete Mütter haben das Abitur oder studieren. Der Anteil der Frauen, die aufgrund einer Vergewaltigung oder Prostitution schwanger geworden sind, liegt bei 6 bzw. 3 Prozent. Jede fünfte hat versucht, die Schwangerschaft abzubrechen.

Ganz unten

Die 2003 erschienene UN-Studie belegte, was SozialarbeiterInnen, SoziologInnen und MenschenrechtsaktivistInnen in Marokko schon lange vermuteten: Es gibt viel mehr unverheiratet Schwangere und außereheliche Kinder als erwartet, und das Phänomen weitet sich aus – allerdings vor allem aus Unwissenheit und wirtschaftlicher Not, und nicht aufgrund eines Wertewandels.

Anders als im Westen sähen die Frauen im Maghreb die Mutterschaft außerhalb der Ehe nicht als eine freiwillige Entscheidung an, erklärt die marokkanische Soziologin Soumaya Guessous, Mitverfasserin einer 2005 erschienenen qualitativen Studie über ledige Mütter:

"Keine der Frauen, die ich interviewt habe, hat sich bewusst für das Kind ohne Mann entschieden. Die ledigen Mütter stehen am unteren Ende der sozialen Skala. Sie sind dreifach ausgeschlossen - ökonomisch, gesellschaftlich und familiär."

Martina Sabra

© Qantara.de 2006

Weitere Informationen zum Thema:

Soumaya Naamane Guessous/Chafik Guessous/Association Solidarité Féminine: Grossesses de la Honte. Editions Le Fennec, Casablanca, 2005 (Französisch, arabische Übersetzung ist vorgesehen)

Jamila Bargach: Orphans of Islam: Family, Abandonment and Secret Adoption in Morocco. Rowman & Littlefield, Boulder 2002 (Englisch)

Qantara.de

Elisabeth-Norgall-Preis für Aicha Chenna
"Muslimisch im Herzen und weltlich im Kopf"
Um ledigen Müttern und ihren Kindern zu helfen, gründete Aicha Chenna vor 20 Jahren die Selbsthilfeorganisation "Solidarité Féminine". In Frankfurt erhielt sie jetzt für ihr Engagement den Elisabeth-Norgall-Preis 2005. Martina Sabra hat Aicha Chenna in Casablanca besucht.

Familiengerichte
Mehr Rechte für Frauen in Ägypten und Marokko
Neu eingerichtete Familiengerichte in Ägypten und Marokko sollen Streitigkeiten zwischen Ehepartnern in gegenseitigem Einverständnis lösen - für viele Frauen die letzte Hoffnung in einer desolaten Situation. Nelly Youssef stellt die Arbeit der Gerichte vor.

Frauenrechte
Ein mutiger Schritt des marokkanischen Königs
Seit 2004 existiert in Marokko das neue Personenstandsgesetz. Theoretisch gehören Marokkos Frauen damit jetzt zu den emanzipiertesten in der arabischen Welt. Martina Sabra stellt das neue Gesetz vor.