Wachsende Kluft zwischen Sunniten und Schiiten
Nur wenige Menschen im Ausland kennen die kleine ethnische Minderheit der Hazara in Pakistan. Die Hazara bilden im Nachbarland Afghanistan die drittgrößte Ethnie, doch in das Gebiet des heutigen Pakistan sind sie erst Ende des 19. Jahrhunderts eingewandert. Der Grund hierfür lag an einer rigorosen Verfolgung der Hazara durch den afghanischen Emir Abdurrahman Khan.
Viele Hazara suchten damals in Britisch-Indien Schutz und bilden seitdem einer beträchtlichen Anteil an der Bevölkerung der pakistanischen Stadt Quetta. Ihre Zugehörigkeit zum Zwölfer-Schiitentum und ihre sichtbaren zentralasiatischen Gesichtszüge heben sie im überwiegend sunnitisch-paschtunisch geprägten Norden der Provinz Belutschistan sichtbar hervor. Somit sind sie ein leichteres Ziel für Angriffe sunnitischer Terrorgruppen. Ab 2012 sind vermehrt Anschläge von Terrororganisationen wie Lashkar-e-Jhangvi („Jhangvi-Armee“) auf die Hazara verübt worden.
Hazara im Kreuzfeuer sunnitischer Terroristen
Nach einer Einschätzung des britischen Innenministeriums aus dem Jahre 2019 sind seit 1999 über 2000 Hazara in Pakistan bei Terroranschlägen getötet worden. Der jüngste Anschlag ereignete sich Anfang Januar 2021, als elf Hazara-Minenarbeiter von Terroristen regelrecht hingerichtet wurden. Die Hinterbliebenen blockierten darauf in einem Protest mehrere Tage eine Hauptstraße und verweigerten eine Beerdigung der Toten, bis der pakistanische Premier Imran Khan ihnen persönlich mehr Sicherheit garantiere. Für den zunächst unsensiblen Umgang mit den Hinterbliebenen erntete der Premier heftige Kritik im ganzen Land.
Letztlich traf Khan die Vertreter der Opfer eine Woche später und sagte ihnen staatliche Unterstützung und mehr Sicherheit zu. Ob dies nur leere Versprechungen bleiben, wie bei den letzten Regierungen, oder ob sich tatsächlich was ändert, wird die Zukunft zeigen.
Die Verfolgung der Hazara ist auch eine Folge der Politik von Militärmachthaber Zia-ul-Haq (1977-1988). Er hatte nach der sowjetischen Besatzung Afghanistans mit saudischer Hilfe mit seiner sogenannten „Islamisierung Pakistans“ radikal-sunnitische Denkrichtungen gefördert. Diese sollten den steigenden Einfluss iranischer Revolutionsideen auf die pakistanischen Schiiten zurückdrängen, die über 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Pakistan im Sog saudisch-iranischer Rivalität
Im Zuge dieser Politik entstanden anti-schiitische Gruppen wie Sipah Sahaba („Wächter der Gefährten des Propheten“) oder Lashkar-e-Jhangvi, deren erklärtes Ziel die Bekämpfung der Schiiten und anderer „Apostaten“ ist. Ab Mitte der 1980er Jahre erlebte Pakistan die schlimmste konfessionelle Gewalt seiner Geschichte, in deren Folge auch einige militante Gruppen der pakistanischen Schiiten entstanden. Ihnen wird eine enge Verbindung nach Iran nachgesagt. Pakistan wurde in den Sog der Auseinandersetzung zwischen den Saudis und den Iranern gezogen. Anschläge und Angriffe forderten hunderte Tote auf beiden Seiten.
Erst Mitte der 1990er Jahren ebbte die Gewalt ein wenig ab. Nach 2001 ging Militärmachthaber Pervez Musharraf, bis 2008 an der Macht, zum ersten Mal gezielt gegen radikale Gruppierungen im Land vor. Seitdem sind neben den sunnitischen Sipah Sahaba auch mehrere militante schiitische Organisationen wie die Sipah-e Muhammad oder Ansarul Hussain verboten worden.
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Syrienkonflikt befeuert konfessionelle Spaltung
Nach einer Zeit der relativen Ruhe scheinen in der letzten Zeit anti-schiitische Gruppen wieder vermehrt aktiv zu werden. Hauptgrund dafür ist der Konflikt in Syrien. Seit 2013 sind nachweislich neben radikalen Sunniten auch Gruppen pakistanischer Schiiten an Kampfhandlungen in Syrien beteiligt gewesen. 2015 wurden sie in der sogenannten Liwa Zaynebioun oder Zaynebioun Brigade separat organisiert. Nach anfänglicher militärischer Grundausbildung werden sie von den iranischen Revolutionsgarden an verschiedenen Frontabschnitten Syriens eingesetzt.
Die im September 2020 abgehaltenen anti-schiitischen Massenkundgebungen in Karachi und Islamabad mögen für viele Pakistanis überraschend gewesen sein, aber sie waren ein Ausdruck dieses schwelenden Konflikts. Unter den Demonstranten befanden sich auch Mitglieder der verbotenen Sipah Sahaba und anderer militanter sunnitischer Organisationen, die mit sunnitischen Terrorgruppen in Syrien sympathisieren. Die Angst der Behörden ist groß, Karachi könnte wieder von einer konfessionellen Gewaltwelle heimgesucht werden. Sicherheitskräfte gehen nun vermehrt gegen militante Gruppen in der Millionenstadt vor. Ende 2020 wurden bei einer solchen Operation auch mehrere Mitglieder der Zaynebioun Brigade festgenommen.
Allerdings kann ein nachhaltiger Erfolg im Kampf gegen die Radikalisierung nur dann gelingen, wenn auch gesamtgesellschaftlich eine Atmosphäre der Toleranz gefördert wird. Davon ist Pakistan jedoch weit entfernt.
© Qantara.de 2021
Mohammad Luqman hat am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg Islamwissenschaft mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Islam in Südasien studiert. Er promoviert zurzeit an der Universität Frankfurt zum Verhältnis von Religion und Nationalismus in Pakistan.
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