Kontrolle über die weibliche Sexualität
Über 90 Prozent aller ägyptischen Frauen in gebärfähigem Alter sind von genitaler Verstümmelung betroffen. Dies ist klar seit die Praxis im Jahr 1994 zum ersten Mal durch eine Studie über Bevölkerungsentwicklung und Gesundheit erfasst wurde. Seit Jahrzehnten kämpfen Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Beschneidung von Frauen und nach dem Volksaufstand Anfang des Jahres 2011 werden Frauenrechte erneut verstärkt in den Medien thematisiert. Frauen und Männer haben zwar Seite an Seite auf der Straße gekämpft, aber dennoch geraten die Rechte der Frau wieder stärker in Gefahr. So fordern beispielsweise ultra-konservative Gruppen die Aufhebung des seit 2008 bestehenden gesetzlichen Beschneidungsverbots.
Mythen und Ignoranz
In Ägypten wird die weibliche Genitalverstümmelung im Allgemeinen als wertvolle und erhaltenswerte Tradition angesehen. Die Überzeugung, die Praxis wäre für die Hygiene oder auch die Ästhetik wichtig, entstammt dem oft lückenhaften anatomischen Wissen in Bezug auf die weiblichen Genitalien, das selbst innerhalb der Ärzteschaft verbreitet ist. Außerdem gibt es vorislamische Mythen, die besagen, dass die Klitoris ein Organ wäre, das ohne Beschneidung zur Übergröße anwachsen könne.
Menschen, die annehmen, dass die weibliche Beschneidung zur Sunna des Propheten gehört, verweisen auf einen Ausspruch Mohammeds, der einer Beschneiderin zwar erlaubt die Praktik weiterhin anzuwenden, aber sie anweist nur wenig wegzuoperieren. Es lässt sich kaum eine ausdrückliche Befürwortung der Praxis durch den Propheten aus diesen Worten ableiten. Im Gegenteil – dieser Ausspruch lässt die Interpretation zu, dass der Prophet wohl überlegt handelte und den Menschen nicht schlichtweg etwas verbat, sondern versuchte die Gesellschaft Schritt für Schritt zu verändern.
Die Tatsache, dass weibliche Genitalverstümmelung in der westlichen Welt praktiziert wurde und ebenso unter koptischen Christen in Ägypten verbreitet ist, spricht gegen die Behauptung eines rein islamischen Ursprungs der Praxis. Nichtsdestotrotz wurde der Islam in den 1990er Jahren – nachdem die gesundheitlichen Risiken der Genitalverstümmelung bekannt geworden waren – zum Hauptargument für die Praxis, da sie von religiös konservativen Gruppen verteidigt und verstärkt angepriesen wurde.
Ägyptische Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen sehen den eigentlichen Grund für die Verstümmelung weiblicher Genitalien im Wunsch nach der Kontrolle weiblicher Sexualität.Argumentationen und Gegenmaßnahmen
Die jahrzehntelangen Bemühungen von Regierungsinstitutionen und Nichtregierungsorganisationen konnten die Verbreitung der Genitalverstümmelung bis heute nicht maßgeblich reduzieren. Studien weisen jedoch darauf hin, dass die Unterstützung dieser Praxis innerhalb der Bevölkerung mittlerweile stark abgenommen hat. Es zeichnet sich ab, dass dies auch zu einem Rückgang der Verbreitung der Genitalverstümmelung insgesamt führen wird, da schon jetzt in den jüngeren Altersgruppen viel weniger Frauen betroffen sind.
Der Hinweis auf die Gesundheitsrisiken der Praktik hatte nicht zum gewünschten Rückgang, sondern zur Medikalisierung geführt. So werden die meisten Mädchen von medizinischem Fachpersonal anstatt von traditionellen Beschneiderinnen und Barbieren beschnitten, um Infektionen während der Operation bestmöglich zu vermeiden. Seit einem ersten Gesetz im Jahre 2008 machen sich Medizinerinnen und Mediziner jedoch strafbar, wenn sie die Praktik vollziehen.
Auch die Tatsache, dass sich islamische und christliche Theologen in Medienkampagnen gegen diese Praxis ausgesprochen haben, führte noch nicht bei allen Bürgern zu einem Umdenken, obwohl sich sowohl mit der Bibel als auch dem Koran belegen lässt, dass die Schöpfung Gottes unangetastet bleiben und damit jeder nicht lebensnotwendige Eingriff in den menschlichen Körper vermieden werden müsse.
Die weibliche Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung anzuprangern ist ein relativ neuer Ansatz. Im Diskurs um Menschenrechte begann das Thema Gewalt gegen Frauen generell erst Anfang der 1990er Jahre eine Rolle zu spielen. Die Bezeichnung der Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung stellt laut ägyptischen Aktivistinnen und Aktivisten ein Durchbruch im Kampf gegen diese Praxis dar. Allerdings bleibt offen, inwieweit gerade das Menschenrecht auf die Unversehrtheit des Körpers ins Feld geführt werden kann. Insbesondere wenn die körperliche Integrität in vielen gesellschaftlichen Feldern und auch durch staatliche Institutionen – beispielsweise durch institutionalisierte Folter – verletzt wird.
Mit dem ersten Gesetz 2008 wurde ein generelles Verbot zur weiblichen Genitalverstümmelung in Ägypten erlassen, dies trotz konstantem Widerstand der religiösen Rechten. Im Februar 2013 wies das Oberste Verfassungsgesetz eine Anfrage konservativer religiöser Gruppen zurück, die das Gesetz wieder aufheben wollten, da das Verbot der Genitalverstümmelung angeblich gegen die Scharia verstoße.
Ein patriarchales Instrument der Kontrolle
In Teilen konnten durch Aufklärungskampagnen, die in allgemeine entwicklungsfödernde Programme speziell für Frauen eigebettet wurden, Erfolge im Sinne eines Rückgangs der Praktik erzielt werden. Dennoch ist die Ausübung weiterhin stark verbreitet und die Zahlen haben sich in den letzten 20 Jahren kaum verändert.
Die ägyptische Ärztin, Autorin und Frauenrechtlerin Nawal Al-Saadawi führt das – wie viele andere Aktivistinnen und Aktivisten – darauf zurück, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser Praxis und der Relevanz von Jungfräulichkeit gibt. Demnach sollen durch die Operation die Keuschheit junger Mädchen gewährleistet und ihre sexuellen Wünsche eingedämmt werden. Die weibliche Genitalverstümmelung stellt ein patriarchales Instrument der Kontrolle von Frauen durch Männer dar.
Die Tatsache, dass der erfüllten Sexualität von Frau und Mann im Islam größte Wichtigkeit beigemessen wird, widerspricht der Annahme, dass es sich bei der weiblichen Genitalverstümmelung um eine religiöse Tradition handelt. Vielmehr wurde sie schon immer und überall angewendet, um der männlichen Angst vor der (sexuellen) Freiheit der Frau entgegenzuwirken. Deswegen ist in patriarchalen Gesellschaften ein komplettes Umdenken erforderlich, damit Frauen in allen Bereichen ein selbstbestimmtes Leben führen können und die alleinigen Kontrolle über ihren Köper haben. So ist der Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung ein integraler Bestandteil des Kampfes für Emanzipation und rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann. Anna Kölling © Goethe-Institut 2013
Die Autorin ist Pädagogin mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und lebt derzeit in Kairo.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de