Heinz Pütter, 14. August 2009
zu Vision von gemeinsamen moralischen Werten von Edda Schlager
Jeder der drei abrahamischen Religionen hat fünf oder sechs epochale Umwälzungen, Paradigmenwechsel durchgemacht. Und so leben bis heute Menschen derselben Religion mental in verschiedenen Paradigmen, in verschiedenen zeitgeschichtlichen Konstellationen, von deren fortbestehenden Grundbedingungen sie geprägt bleiben:
So gibt es zum Beispiel im Christentum noch heute Katholiken, die geistig im 13. Jahrhundert leben: Gleichzeitig mit Thomas von Aquin, den mittelalterlichen Päpsten und der absolutistischen Kirchenordnung. Man wird Papst Benedikt, Joseph Ratzinger, nie verstehen, wenn man nicht sieht, dass er im Grunde in diesem mittelalterlichen römisch-katholischen Paradigma lebt und daher konsequenterweise die Reformation wie die Aufklärung vornehm als »Enthellenisierung«, um nicht zu sagen als »Abfall« vom wahren Christentum abqualifiziert hat.
Es gibt aber auch manche Vertreter östlicher Orthodoxie, die geistig im 4./5. Jahrhundert geblieben sind und gleichzeitig mit den griechischen Kirchenvätern und den hellenistischen Konzilien leben und jede Weiterentwicklung in Liturgie, Theologie und Kirchendisziplin ablehnen. Und es gibt evangelikale Protestanten, besonders in den USA, die nach wie vor in der vormodernen Konstellation des 16. Jahrhunderts stecken geblieben sind. Deshalb sind sie grimmige Gegner vor allem der Evolutionstheorie und der modernen Exegese und versuchen die buchstäbliche biblische Auslegung der Schöpfungsgeschichte selbst im Biologieunterricht der Schulen durchzusetzen.
Ganz ähnlich aber gibt es auch manche orthodoxe Juden, die im mittelalterlichen Judentum ihr Ideal sehen und sogar den modernen Staat Israel ablehnen. Umgekehrt sehen viele Zionisten den Staat Israel rein modern-säkular. Doch zugleich streben sie mit Gewalt ein Großisrael in den Grenzen des davidisch-salomonischen Reiches an – mit verheerenden Folgen für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern, von denen dann einige aus Verzweiflung zu Selbstmordattentaten greifen.
In ähnlicher Weise träumen manche Muslime noch dem großen arabischen Reich nach und wünschen sich die Vereinigung der arabischen Völker zu einer einzigen arabischen Nation (»Panarabismus«). Andere aber, etwa in Iran, sehen nicht im Arabertum, sondern im Islam das Völkerverbindende und geben einem »Panislamismus« den Vorzug – mit dem schiitischen Islam als Vormacht.
Es ist offenkundig: Gerade in diesem Andauern, dieser Persistenz und Konkurrenz früherer religiöser Paradigmen im Heute liegt eine der Hauptursachen der Konflikte innerhalb der Religionen und zwischen den Religionen, Hauptursache der verschiedenen Richtungen und Parteiungen, der Spannungen, Streitigkeiten und Kriege.
Ich frage deshalb: Was war zur Zeit von Abraham Geiger und was ist auch heute noch für eine Reform der Religion die zentrale Streitfrage? Ich antworte: Wie verhält sich die jeweilige Religion zu ihrem eigenen
Mittelalter (das zumindest in Christentum und Islam als die »große Zeit« gilt), und wie verhält sie sich folglich zur Moderne, wo man sich in allen drei Religionen in die Defensive gedrängt sieht.
Das Christentum hat nach der Reformation zumindest im Protestantismus einen weiteren Paradigmenwechsel, den der Aufklärung, zur Moderne durchmachen können.
Das Judentum aber machte zuerst die Aufklärung durch (mit Moses Mendelssohn als großem Initiator) und erlebte im Anschluss daran zumindest im Reformjudentum in Deutschland und USA eine religiöse Reformation. Der Islam aber, der im 12. Jahrhundert die Philosophie und jedes neue Denken zugunsten der Orthodoxie verabschiedet hat, machte keine nachhaltige religiöse Reformation durch. Er hat von daher auch mit der Moderne bis auf den heutigen Tag besonders schwerwiegende Probleme, wie etwa der mittelalterlich orientierte römische Katholizismus, dem es aber mithilfe des Zweiten Vatikanischen Konzils gelungen ist, gewichtige Anliegen der Reformation und der Moderne aufzunehmen.
Viele Juden, Christen und Muslime, die das moderne Paradigma bejahen, verstehen sich untereinander besser als mit den je eigenen Glaubensgenossen, die in anderen Paradigmen leben. Umgekehrt können dem Mittelalter verhaftete Römisch-Katholische sich zum Beispiel in Fragen der Sexualmoral mit den »Mittelalterlichen« im Islam verbünden. (So geschehen auf der UN-Bevölkerungskonferenz in Kairo 1994.)
Wer Versöhnung und Frieden will, wird um eine kritisch-selbstkritische Paradigmenanalyse nicht herumkommen. Nur so lassen sich Fragen beantworten wie diese: Wo sind in der Geschichte des Christentums, wo sind im Judentum und im Islam die Konstanten und wo die Variablen? Wo besteht Kontinuität und wo Diskontinuität, wo ist Übereinstimmung gegeben und wo Widerstand geboten? Zu bewahren ist vor allem das Wesen, das Fundament, der Kern einer Religion und von daher die vom Ursprung her gegebenen Konstanten. Nicht unbedingt zu bewahren ist alles das, was vom Ursprung her nicht wesentlich ist, was Schale und nicht Kern, was Ausbau und nicht Fundament ist.
So verhilft denn eine Paradigmenanalyse angesichts all des religiösen Wirrwarrs gerade im Zeitalter der Globalisierung zu einer globalen Orientierung, wichtig vor allem für die Neugestaltung der internationalen Beziehungen, des Verhältnisses Westen–Islam und auch der Beziehungen zwischen den drei abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.
Die Optionen sind klar: Entweder Rivalität der Religionen, Zusammenprall der Kulturen, Krieg der Nationen – oder Dialog der Kulturen und Frieden zwischen den Religionen als Voraussetzung für den Frieden zwischen den Nationen! Sollten wir angesichts der tödlichen Bedrohung der Gesamtmenschheit nicht, anstatt neue Dämme des Hasses, der Rache und Feindschaft aufzurichten, lieber die Mauern des Vorurteils Stein um Stein abtragen und damit Brücken des Dialogs bauen, Brücken gerade auch zum
Islam?