Die Legitimationskrise des iranischen Regimes
Die längsten Zornesausbrüche lässt er an den Opportunisten aus, den Kompromisslern, den Reformorientierten, die sich für ihr schäbiges Auskommen mit dem Regime einlassen, die sich verkaufen, die mit den Herrschern ins Geschäft kommen, die sogar bereit sind, den Denunzianten und den Henker zu spielen. Frieden mit dem Regime ist für ihn das größte Übel.
"Ich pisse auf Deinen Oscar”, rappt Toomaj Salehi und meint den preisgekrönten Regisseur Asghar Farhadi, dessen Makel eben darin bestehe, das Herrschaftssystem der Ayatollahs, Mullahs und Regimewächter in seinen Filmen zu schonen. Toomaj schont die Machthaber nicht. Er wünscht ihnen ganz offen das Ende. Er sagt es ihnen voraus und schickt eine Drohung hinterher: "Der Knüppel der Rache ist dick".
Seine Rapsongs sind Aufrufe zur Massenrevolte, ein verbales Ausholen zum Todesstoß gegen die Tyrannen. Die Mauselöcher, in die sich die Machthaber dann verkröchen, würden ihnen auch keinen Schutz mehr bieten. Jetzt ist der iranische Rapper Toomaj Salehi von einem Richter in Isfahan zum Tode verurteilt worden.
"Es lebe die Revolution"
Gemessen am Inhalt seiner Tiraden hat das Regime den Spieß umgedreht. Tatsächlich spiegelt dieses Ergebnis die banalen Machtverhältnisse wider.
Die allermeisten Tage und Nächte seit Ausbruch der jüngsten Protestwelle gegen das iranische Regime im Herbst 2022 hat Toomaj im Gefängnis verbracht, wo er Demütigungen und Folter erlitt. Aber vom Leiden redet er nicht gern. In seinem Werk nimmt der nun 33-Jährige die Pose des Umstürzlers ein, der mit Blick auf die Gewehrläufe des Erschießungskommandos brüllt: "Es lebe die Revolution."
Toomaj Salehi steht für einen neuen Typus von Regimegegner, einen Typus, der nicht bloß den Todesmut in sich, sondern die Todesverachtung vor sich herträgt. Wesensverwandt mit ihm ist etwa Madschid Reza Rahnavard, der im Dezember 2022 gehängt wurde. Kurz vor seiner Hinrichtung in Mashhad ermunterte der junge Mann in einem vom Staatsfernsehen aufgezwungenen Interview seine Verwandten und Freunde, auf seinem Grab zu tanzen, statt den Koran zu rezitieren.
Die Fälle erinnern an Alexej Nawalny, der sein Schicksal buchstäblich gesucht und im eigenen Tod den ultimativen Protest gesehen zu haben scheint. Unbestreitbar erzielen diese individualistischen Totalrevolutionäre eine öffentliche Wirkung: Durch ihr Tun und die Reaktion des Herrschaftsapparates darauf werden dessen Verrottung und Verkommenheit für Jedermann an die Wand gemalt.
Gewalt nach innen, nicht nach außen
Es sind Herrschaftsapparate ohne jeden Geist und ohne jede Legitimität. Der Iraner Toomaj rüttelt an dem hohlen Lügengebäude, das von der herrschenden Staatsidee in seinem Land übriggeblieben ist: "Am Ende kommen alle Verbrechen ans Tageslicht. Keine Übertünchung kann sie verbergen”, prophezeit er.
Der Herrschaftsapparat stützt sich darauf, dass er bis an die Zähne bewaffnet und der revoltierende Gegner unbewaffnet ist. Das bedeutet eine Feigheit, die das iranische Regime auf besonders eklatante Weise erkennen lässt. Es richtet die Gewalt nach innen, gegen Toomaj und dessen Wesensverwandte sowie gegen die Frauen.
Nach außen ziehen die Machthaber, um es in der Rapper-Sprache auszudrücken, den Schwanz ein. Vor einem offenen Krieg mit Israel haben sie Angst. Insofern geht der mediale Reflex in Deutschland, der vor der kriegslüsternen Militärmacht der Mullahs warnt, an der Sache vorbei.
Das Emporkommen der Lumpen
Fakt ist, dass das iranische Regime nicht einmal mehr hoffen darf, durch einen Krieg mit dem Erzfeind Teile der Bevölkerung hinter sich zu versammeln. Ein solcher Effekt der nationalen Mobilisierung hatte in den 1980er Jahren die damals noch junge Islamische Republik im Krieg gegen den Irak von Saddam Husein bekanntlich stabilisiert.
Der Abstieg des iranischen Regimes geht einher mit dem Emporkommen der Lumpen. Der große bürgerliche Porträtzeichner der iranischen Gesellschaft, der Schriftsteller (und Elektroingenieur) Amir Hasan Cheheltan, hat den heimlichen Pakt des Regimes mit dem brutal-kriminellen Rand der Gesellschaft in seinen Romanen eindringlich beschrieben.
Die Turbanträger können sich nur an der Macht halten, weil sie von dekulturierten Schlägertrupps beschützt werden. Die Triftigkeit dieser Analyse tritt immer deutlicher hervor. Der amtierende Präsident der Islamischen Republik Iran, Ebrahim Raisi, ist buchstäblich ein Lump, eine moralisch und intellektuell durch und durch korrumpierte Person.
Er unterschreitet das geistige und intellektuelle Niveau seines Vorvorgängers Mahmud Ahmadinejad, falls sich noch jemand an diesen erinnert, um Längen. Raisi hat das zweifelhafte Privileg, in diesen für die Regierungsfähigkeit nicht ganz unwichtigen Kategorien mit dem vorbestraften israelischen Polizei- und Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir um den Bodensatz zu konkurrieren.
Die "Herrschaft der Schlechtesten"
Israel sei nun einmal nicht, wie der Historiker Moshe Zimmermann in vollendeter Ironie sagt, die einzige “Kakistokratie” im Nahen und Mittleren Osten. Diese "Herrschaft der Schlechtesten" hat sich regional fest etabliert. Insofern können Joe Biden und Xi Jinping bei ihrem nächsten Gipfel darum wetteifern, wer wegen seines Verbündeten im Nahen Osten die größeren Kopfschmerzen hat.
"Lerd", persisch für Bodensatz, heißt einer der neueren, sich durch soziale Gegenständlichkeit auszeichnenden Filme des Regisseurs Mohammad Rasoulof. Das Werk ist subtil und bringt doch die Verkommenheit des iranischen Regimes auf den Punkt.
Rasoulof hat, zusammen mit seinem ebenso regimekritischen Berufskollegen Jaʿfar Panahi, den Rapper Toomaj besucht, als dieser im November 2023 wenige Tage auf freiem Fuß war. Ein historisches Foto dokumentiert diesen Solidaritätsbesuch. Die beiden Patriarchen der subtilen Regimekritik nehmen den jungen Mann der offenen Revolte in ihre Mitte.
Wenig später war Toomaj wieder hinter Gittern. "Mittelalterlich" sei das nun ergangene Todesurteil gegen den Rapper, erklärten Rasoulof und Panahi. Einerseits trifft diese Charakterisierung gewiss zu.
Toomaj wurde wegen "Korrumpierung auf Erden" verurteilt. In ihrer religiös gefärbten Unbestimmtheit ist die Strafnorm geeignet, jeden Missliebigen an den Galgen zu bringen.
Andererseits verfehlt die Einstufung als "mittelalterlich" den tiefen Gehalt des koranischen Begriffs "fasād fī-l-arḍ" (Korrumpierung oder Verderben auf Erden). Wer den politischen, sozialen, moralischen und nicht zuletzt ökologischen Zustand des Landes betrachtet, dem muss ins Auge fallen, dass niemand dieses Verbrechens so schuldig ist wie die Machthaber selbst.
Sie haben den Iran verdorben. Den Islam als Legitimationsquelle für irgendetwas haben sie damit - ein Nebeneffekt, der voreilige westliche Ideologen freuen wird - nachhaltig diskreditiert.
Mit Todesverachtung
Dem Erscheinen eines Toomaj Salehi haftet etwas objektiv Unvermeidliches an. Wer, wenn nicht der Weltstraßenkünstler, soll sich der "Herrschaft der Lumpen" noch entgegenstellen? Den Unterdrückern sagt er voraus, dass sie ihre Rolle mit den Unterdrückten bald tauschen würden. Das klingt nicht wirklich gut. Als wenn der Protest gegen das nihilistische Regime selbst zum Nihilismus verdammt wäre. Von der Todesverachtung ist der Schritt dorthin bekanntlich nicht sehr groß.
Aber wer ist Toomaj? Er ist ein Unbewaffneter und ein organisatorisch Ungebundener, der in seinem Zornesschwall die Fiktion einer Augenhöhe mit dem Gegner herstellt. Ein nationalistisch aufgeladenes "Wir" versucht er zu definieren als die große Gruppe derjenigen, die gegen das Regime sind. Diesem gibt er so eine Steilvorlage für hartes Durchgreifen, einerseits. Toomaj hält den Machthabern sozusagen beide Wangen hin.
Es droht ein Verzweiflungsschub
Andererseits ist er gerade deshalb landesweit bekannt, weil er einer verbreiteten Stimmung Ausdruck gibt. Eine Vollstreckung des Todesurteils wird einen Verzweiflungsschub auslösen. Das ist aus Sicht der Machthaber nicht ohne Risiko. Dieses hat der Rapper selbst benannt. Er kündigt ihnen in einem Song an, dass sie ihren Herrschaftsapparat mit den Gewaltorgien ins Chaos stürzen werden.
Spätestens hier kommt die Außenwelt wieder ins Spiel. Chaos ist kein Szenario, das den Regierenden in Europa gefallen kann. Wo diese auf der Skala des guten und schlechten Regierens stehen, ist hier nicht das Hauptthema. Chaos im Iran würde jedenfalls Millionen Flüchtlinge bedeuten, die sich auf den Weg nach Europa machen. An den Flüchtlingstreck 2015 aus Syrien, wo Bashar al-Assad heute noch rund die Hälfte seiner ursprünglichen Bevölkerung regiert, dürfte sich sogar Bundeskanzler Olaf Scholz erinnern.
Eine Vollstreckung des Todesurteils gegen Toomaj würde uns der Wiederholung eines solchen Geschehens ein Stück näherbringen. Gemessen daran, ist die Reaktion der Bundesregierung eher zurückhaltend zu nennen.
Die Bundesaußenministerin schweigt, überlässt den Protest gegen das Todesurteil ihrer Menschenrechtsbeauftragten. In den vergangenen zwei Jahren erklärten Annalena Baerbock und Olaf Scholz wiederholt, wie wichtig es sei, die Gesprächskanäle zum iranischen Regime aufrecht zu erhalten. Was ist nun damit? Womit wir dann doch wieder bei der Nahostpolitik der Bundesregierung wären.
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Der Autor ist als Fernsehjournalist für den NDR tätig.