Jüdische und muslimische Communities auf der Suche nach Solidarität
Gewalt im Nahen Osten ist auf tragische Weise vorhersehbar. Communities auf der ganzen Welt, die sich mit Israel oder den Palästinensern identifizieren, sind zutiefst traumatisiert. Die gegenwärtige Empörung ist umso größer, als sie durch Zerstörung und Tod in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ausgelöst wurde. Die Terrorangriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei denen etwa 1.200 Menschen, überwiegend Zivilisten, getötet wurden, waren der schlimmste Moment in der 75-jährigen Geschichte des Landes.
Schätzungen zufolge sind den israelischen Vergeltungsschlägen bislang mehr als 34.000 Menschen im Gazastreifen zum Opfer gefallen. Darunter dürften auch viele Kämpfer der Hamas sein, allerdings auch viele Kinder. Die Hamas wird von der EU, den USA, Deutschland und anderen als Terrororganisation eingestuft.
Abdassamad El Yazidi, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, sagte, sowohl Juden als auch Muslime nähmen den Konflikt sehr emotional auf. "Aber es ist möglich, Vertrauen aufzubauen, sachlich über das Thema zu sprechen und trotzdem respektvoll miteinander umzugehen", fügte er hinzu.
Diese Herausforderung stellt sich überall dort, wo Juden und Muslime zusammenleben. Für Deutschland ist dies eine besonders schwierige Gratwanderung. Hier leben rund 5,5 Millionen Muslime, von denen nach Angaben der Deutschen Islamkonferenz mehr als die Hälfte deutsche Staatsbürger sind. Deutschland beherbergt auch die größte palästinensische Diaspora in Europa. Die jüdische Gemeinde ist deutlich kleiner, sie umfasst vermutlich weniger als 200.000 Menschen. Aufgrund der deutschen Geschichte gebührt ihr jedoch eine besondere Aufmerksamkeit.
Aus historischer Verantwortung für den Holocaust, bei dem sechs Millionen europäische Juden von Nazi-Deutschland ermordet wurden, betrachten Politiker die Sicherheit Israels und den Schutz jüdischen Lebens als Teil der "Staatsräson" des Landes. Mit anderen Worten: Bei der Bekämpfung von Hass und Gewalt gegen alle gesellschaftlichen Gruppen steht Juden eine bevorzugte Rolle zu. Erst kürzlich hat die Bundesregierung eine zusätzliche Zahlung von 25 Millionen Euro an in Israel lebende Holocaust-Überlebende bewilligt, um sie bei der Bewältigung der Folgen der Hamas-Attentate zu unterstützen.
"Als Gesellschaft und als Bürger sind wir verantwortlich für die antisemitische Vernichtung von Millionen von Menschen", sagte Abdassamad El Yazidi, der selbst in zahlreichen muslimisch-jüdischen Projekten in Deutschland und ganz Europa mitwirkt. "Wir müssen alles tun, damit sich so etwas nicht wiederholt. Die Antwort kann aber nicht sein, eine andere religiöse Gruppe zu stigmatisieren, auszugrenzen und ihr die Zugehörigkeit zu verweigern".
Politische Unehrlichkeit
Nach den Anschlägen der Hamas haben sowohl Regierungs- als auch Oppositionsparteien in Deutschland Vorschläge zur verstärkten Bekämpfung des Antisemitismus vorgelegt, mit besonderem Augenmerk auf den "importierten Antisemitismus" – eine klare Anspielung auf Minderheitengruppen, denen viele im Ausland geborene Menschen angehören.
In einer vielbeachteten Videoerklärung vom November letzten Jahres forderte Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, Muslime in Deutschland müssten sich "klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen".
Eine solche Politik sei "unehrlich", sagte El Yazidi. Es sei "dreist", wenn das Land, das den Holocaust zu verantworten habe, von "importiertem" Antisemitismus spreche.
Das jüdische Pendant seiner Organisation, der Zentralrat der Juden in Deutschland, ließ eine Anfrage der Deutschen Welle für eine Stellungnahme unbeantwortet. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die Aufgabe, jüdisches Leben in Deutschland zu fördern und den Dialog mit anderen Gemeinschaften zu pflegen. Die "Denkfabrik Schalom Aleikum" wurde im September 2022 vom Zentralrat der Juden in Deutschland ins Leben gerufen. Sie soll "Wissensbestände zu christlichen, jüdischen und muslimischen Lebensrealitäten in Deutschland ... generieren und ... der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen".
Ende letzten Jahres veröffentlichte die Denkfabrik "Empfehlungen für Leitplanken des jüdisch-muslimischen Dialogs", dessen Möglichkeit durch die Anschläge vom 7. Oktober "massiv in Frage gestellt" worden sei.
Der Nahostkonflikt und seine Bedeutung für den jüdisch-muslimischen Dialog in Deutschland dürfe "kein Elefant im Raum bleiben", sondern müsse "qualifiziert und differenziert ... besprochen werden".
"Ich freue mich, dass die 'Denkfabrik Schalom Aleikum' in dieser krisenhaften und von Krieg bestimmten Zeit einen kühlen Kopf bewahrt", sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Spirale des Misstrauens
Es ist schwierig, eine umfassende Bilanz über den Stand der Beziehungen zwischen Juden und Muslimen zu ziehen. Anders als ihre Namen vermuten lassen, sind die beiden Zentralräte nur zwei von vielen muslimischen und jüdischen Organisationen in Deutschland. Sie sprechen keineswegs für alle Muslime und Juden, von denen sich viele keiner Gruppe zugehörig fühlen.
Was Juden und Muslime eint, ist die gemeinsame Bedrohung. Staatliche und nichtstaatliche Berichte belegen immer wieder, dass Rechtsextremisten die größte Gefahr für beide Gruppen darstellen – und für die Gesellschaft insgesamt. Laut dem Jahresbericht 2022 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) hatten in den Jahren 2022 und 2021 weniger als ein Prozent der antisemitischen Vorfälle einen islamischen oder islamistischen politisch-weltanschaulichen Hintergrund.
Im Monat nach den Anschlägen vom 7. Oktober stieg dieser Anteil auf sechs Prozent, parallel zu einem Anstieg antimuslimischer Vorfälle. In 53 Prozent der antisemitischen Vorfälle blieb der genaue Hintergrund laut Bericht unbekannt.
"Diese Zahlen sagen noch nichts über das Ausmaß für das Jahr 2023 insgesamt aus", sagt Marco Siegmund, Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband RIAS. RIAS orientiert sich, wie u. a. auch die Bundesregierung, an der von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verabschiedeten Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die viele Formen der Kritik an Israel als antisemitisch einstuft.
In einer Erklärung sagte Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, jede Form von Antisemitismus sei gefährlich, egal aus welcher Ideologie er komme. "Er ist Ausdruck einer zutiefst demokratiefeindlichen Haltung und lehnt die Errungenschaften unserer modernen, freiheitlichen Gesellschaft ab."
Für Muslime am ehesten vergleichbar mit Kleins Rolle ist das Amt des Antirassismusbeauftragten, das die Regierung Anfang 2022 eingerichtet hat. Die Beauftragte, Reem Alabali-Radovan, ist gleichzeitig Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Viele Muslime in Deutschland sind in Deutschland geboren und besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft.
Schutz für alle
Der unterschiedliche Umgang des Staates mit seinen Minderheiten hat nicht nur Auswirkungen auf das jüdisch-muslimische Verhältnis, sondern auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt.
"Ich habe immer versucht, das Feld auf die Vorurteilsforschung insgesamt auszuweiten“, sagt Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. "Mit der politischen Absicht, der Mehrheit klarzumachen, dass man nicht eine Minderheit gegen eine andere ausspielen kann." Genau das sei mit den beiden Minderheiten geschehen, die sich ziemlich feindselig gegenüberstehen.
Benz' Untersuchungen legen nahe, dass antijüdische Ressentiments häufig ein Symptom für umfassendere Formen von Gewalt und Diskriminierung sind. Sich vor allem auf die antisemitische Dimension zu konzentrieren, mag in Deutschland einem politischen Standard entsprechen, könnte aber einen wichtigen Punkt übersehen.
"Die Lektion des Holocaust haben wir erst dann gelernt, wenn wir nicht nur freundlich zu Juden sind, sondern wenn wir erkannt haben, dass keine Minderheit, egal welche, diskriminiert und verfolgt werden darf", sagte Benz. "Genau daran mangelt es im deutschen Bewusstsein."
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