Entschleiert euch!
Es muss ein sonderbares Spektakel gewesen sein: Auf einer Bühne versammelt sich eine Gruppe traditionell gekleideter Musliminnen. Vor den Augen gespannter Zuschauer und der eigens geladenen internationalen Presse beginnen sie auf ein Zeichen hin gleichzeitig, sich zu entschleiern. Vielleicht ist auch jede von ihnen einzeln aufs Podest gestiegen, hat sich das Kopftuch heruntergezogen und öffentlich erklärt, sich von der patriarchalen Tradition zu befreien und zur Emanzipation zu bekennen.
Soldaten erhalten den Befehl, sich unters Publikum zu mischen und unverschleierte Einheimische mit Beifall und Sympathiebekundungen zum Mitmachen zu bewegen, um die Selbstentblößungen auf der Bühne zu unterstützen. Alles ist sorgfältig inszeniert, kein dramaturgisches Detail dem Zufall überlassen. Ob sich die Musliminnen nach dieser öffentlichen Zurschaustellung wohl vom männlichen Joch befreit gefühlt haben?
Maskerade der Kolonialherren
Eine der Frauen erinnert sich später daran, wie sie weinte, als man sie für das Massenspektakel in ein rot-blaues Gewand zwang. Wie im Theater sollte sie die "Marianne" verkörpern, die weibliche Repräsentation der Französischen Republik.
Monique Améziane war damals gerade 18 Jahre alt, als man sie für den Propagandafeldzug der französischen Kolonialmacht in Algerien auserkor, der in medienwirksamen Entschleierungszeremonien in allen großen Städten 1958 seinen Höhepunkt fand. Ihre Geschichte kann man im Militärarchiv der französischen Armee in Paris nachlesen. Die junge Algerierin legte ihren Schleier keineswegs freiwillig ab, sondern ließ sich auf das Theater nur ein, weil ihr mit der Exekution ihres inhaftierten Bruders gedroht wurde. Leidensgenossinnen wollten ihre Anstellung in französischen Haushalten nicht verlieren.
An Frauen wie ihnen wollten französische Generäle ein Exempel statuieren und der ganzen Welt zeigen, wie das moderne Frankreich über die archaischen Länder im islamischen Afrika triumphierte.
Handbücher zur schrittweisen Entschleierung
In Ägypten hatten die Briten schon Ende des 19. Jahrhunderts erkannt, dass der Schlüssel zur Beherrschung der Kolonien die Frauen waren und eine öffentliche Debatte über den Hidschab angezettelt. Die feministische Intellektuelle Leila Ahmed zeigt, wie Lord Cromer die Kopfbedeckung für seine Zwecke instrumentalisierte, um "den Islam" als vollkommenen sozialen Fehlschlag zu entlarven. Die Frau werde durch die geschlechtersegregierende Verhüllung als minderwertig und dem Manne Untertan gebrandmarkt. So versuchte Cromer, die Ägypterinnen gegen ihre Männer, Väter und Brüder auszuspielen.
Um den "mittelalterlichen und barbarischen Sitten des Islam" ein Ende zu setzen, wurden ganze Heerscharen von wohlmeinenden Aufklärern auf die koloniale Zivilbevölkerung losgelassen: Missionare, Feministinnen, sogar Ärzte sollten den unterdrückten und benachteiligten Frauen solidarisch gegen die orientalische Männerherrschaft zur Seite stehen und sie retten. Nicht selten verteilten sie Handbücher zur Anleitung für eine schrittweise Entschleierung.
In England machte sich Cromer, dem die Freiheit der Frauen so am Herzen lag, als Aktivist gegen das Frauenwahlrecht einen Namen. In Ägypten setzte er durch, dass keine Ärztinnen mehr ausgebildet wurden – als Krankenschwestern konnten Frauen ihre naturgegebenen Eigenschaften besser verwirklichen. Es gibt Gerüchte, dass es Cromer gar nicht um die Freiheit der Ägypterinnen ging, sondern er nur nicht ertrug, von Frauen gesehen zu werden, die er unter dem Hidschab selbst nicht sehen konnte.
Der Traum von der domestizierten Gesellschaft
Die Kolonialzeit in Ägypten endete, bevor die "Zwangsemanzipation" wirkliche Früchte tragen konnte. In Algerien hingegen wurde der Traum von einer totalen Domestizierung der Gesellschaft noch ein wenig weiter geträumt. Weil die meisten Musliminnen ihren Hidschab aber eben nicht aus freien Stücken hergeben wollten, musste man sie zu ihrem „Glück“ zwingen. Weil auch das nicht so einfach war, verfielen die Kolonialbeamten auf kreativere Methoden.
Monique Améziane, die bei einer Entschleierungszeremonie den Part der "Marianne" spielen musste, ist ein Beispiel für den kolonialen Ideenreichtum. Der Clou an ihrer Geschichte ist nämlich, dass sie bis zu diesem Auftritt eigentlich gar kein Kopftuch getragen hatte. Das wurde ihr eigens um den Kopf gehüllt. Frantz Fanon, der als Martinikaner selbst aus einer französischen Kolonie stammte und heute als Vordenker der Postkolonialtheorie gilt, illustriert in seinen Fallstudien aus dieser Zeit weitere Opfer der Zwangsentschleierungen, die für den Akt in exotische traditionelle Gewänder gesteckt wurden – oder was die Franzosen dafür hielten.
Der Medientrick mit der folkloristischen Verkleidung hatte schon in den 1890er Jahren funktioniert. Damals zirkulierten Bildchen und Postkarten in der französischen Öffentlichkeit, die angeblich ganz normale muslimische Frauen darstellten – als Haremsdamen in prachtvollen Roben und lasziven Posen, verschleiert und doch barbusig. Später kam heraus, dass die Aufnahmen nur gestellt waren und man Prostituierten eine Menge Geld dafür bezahlt hatte.
Sie erfüllten dennoch ihren Zweck und bedienten die orientalistischen Fantasien der männlichen Franzosen, denen jeder Kontakt zu muslimischen Frauen – außer zu Prostituierten – verwehrt war. Gleichzeitig konnten sich die zu Hause Verbliebenen so ein Bild von der Eroberung machen. Der algerische Autor Malek Alloula hat dazu eine aufschlussreiche Sammlung der französischen Haremsbilder zusammengestellt.
Kolonialfolklore für den antikolonialen Widerstand
Fanon zeigt aber noch etwas – und das ist die eigentliche Lehre aus vielen seiner Schriften, die in heutigen Diskursen viel zu selten Beachtung findet: Die Frauen setzen sich zur Wehr. Als sie die Schleierbesessenheit der Besatzer erkennen und die Möglichkeiten, zögern sie nicht lange, sondern machen sich die Wirkung der Kostümierung für ihre eigenen Zwecke zunutze. Widerstandskämpferinnen, die bisher verschleiert waren, verkleiden sich als Bekehrte, indem sie das Kopftuch ablegen. In westlicher Kleidung, mit aufwendigen Frisuren und hohen Absätzen werden sie von den Grenzposten der französischen Neustadt, etwa in Algier, nicht ernst genommen. In ihren Handtäschchen schmuggeln sie Waffen für den antikolonialen Widerstand.
Heute wehren sich Musliminnen in Europa nicht militant, sie ziehen vors Bundesverfassungsgericht oder schreiben Bücher. Während Feministinnen wie Alice Schwarzer noch immer in dieselbe Kerbe hauen, wie schon vor über hundert Jahren: Der Schlüssel zur Emanzipation muslimischer Gesellschaften ist die Stellung der Frauen. Das Kopftuch ist die Flagge des Islamismus. Das Kopftuch ist das Zeichen, das die Frauen zu den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht. Und real sind Kopftuch und Ganzkörperschleier eine schwere Behinderung und Einschränkung für die Bewegung und die Kommunikation.
Dabei scheint ihnen nicht bewusst zu sein, vor welches Dilemma sie muslimische Kopftuchträgerinnen damit stellen. Frauen haben dann nur noch die Wahl, sich von Männern beherrschen zu lassen oder von Pseudofeministinnen. Da nimmt man doch lieber den Schleier.
Susanne Kaiser
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