Arabischer Frühling und Oktoberrevolution
Eine Million waren es nicht, die zur Demonstration gegen die Präsenz der US-Truppen im Irak kamen, aber Tausende. Am linken Tigrisufer zog sich ein Protestzug entlang, der am Eingangstor der Bagdad Universität endete. Der Schiitenkleriker Muktada al-Sadr hatte zu einem Eine-Million-Marsch aufgerufen.
"Amerikaner raus aus meinem Land", stand auf den Transparenten, die die Protestler vor sich hertrugen. Nach der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani am 3. Januar am Flughafen in Bagdad durch eine amerikanische Drohne, hat sich die ohnehin anti-amerikanische Stimmung im Irak weiter verstärkt. War es vordem zuallererst der Iran, dessen enormen Einfluss im Irak kritisiert wurde, so sind es jetzt die USA. Die Iraker haben Angst, dass sie immer mehr zwischen die Fronten des Konflikts Washington gegen Teheran geraten und darin zerrieben werden.
Mit allen Mitteln wird derzeit versucht, die Protestbewegung im Irak kaputt zu machen. Entführungen, gezielte Tötungen von Aktivisten, Drohungen gegen deren Familien, Razzien in deren Häuser und Wohnungen. Journalisten, die über die Proteste berichten, werden verfolgt, inhaftiert, Studios von oppositionellen TV-Sendern zerstört, die Technik unbrauchbar gemacht. Neuestes Beispiel der Repressalien ist die Entführung von vier Mitarbeitern einer französischen, christlichen NGO in Bagdad – drei französische Staatsbürger und ein Iraker.
Spaltpilz Muktada al-Sadr
Auch der Eine-Million-Marsch Muktada al-Sadrs hatte das Ziel, die Bewegung zu schwächen, indem er sie spaltet. Während sich der Kleriker noch zu Beginn der Demonstrationen im Oktober an die Spitze der Bewegung setzte und deren Ziele unterstützte, gilt er jetzt als Spaltpilz.
Dass alle ausländischen Truppen den Irak verlassen sollen, wie die Menschen am Tahrir-Platz in Bagdad fordern, ist von Al-Sadr nicht mehr zu hören. Fotos machen die Runde, die ihn an der Seite Soleimanis und des iranischen obersten Führers Ayatollah Khamenei zeigen. Seine Positionierung ist jetzt eindeutig. Er hat sich von den Demonstranten am Tahrir-Platz entfernt und sie sich von ihm.
Jetzt schlagen die Sicherheitskräfte brutal zu, nachdem Sadr seine Unterstützung für die Proteste aufgekündigt hat. Innerhalb von 24 Stunden sterben 13 Menschen, die Zelte am Tahrir-Platz brennen. Es wird mit scharfer Munition geschossen. Das Protestcamp soll aufgelöst werden.
Die Arabellion zieht von Kairo nach Bagdad
Eigentlich wollten die vier Journalisten nicht zu dem vorgeschlagenen Treffpunkt in einer Seitenstraße des Tahrir-Platzes in Kairo kommen. "Wir müssen damit rechnen, dass wir jede Minute verhaftet werden." Und dann sind sie doch erschienen, im Café Riche, wo schon Saddam Hussein als Student seinen Tee getrunken hat und sich mit Sympathisanten der Baath-Partei traf, deren Gründer er war und die ihm später zur Macht verholfen hat.
"Es war ein Traum", sagen Nora und Noor, Alaa und Abdal Galil, was am 26. Januar 2011 begann und schlechthin als Arabischer Frühling bekannt wurde. Ein Aufstand der Jungen gegen Langzeitherrscher Husni Mubarak, "unsere Revolution", wie sie es immer noch nennen.
Dass ihr Aufbegehren mitnichten eine Revolution war, weil es nichts veränderte, keinen Regimewechsel herbeiführte, keine Systemveränderung schaffte, wollen sie nur zögerlich akzeptieren. Lebenslügen sind zäh. Zwei Frauen und zwei Männer, die es nicht wagen, ihre Nachnamen zu nennen aus Angst vor dem Mann, der ihre "Revolution" kaputt machte, der Demokratie versprach und Diktatur brachte.
Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi regiert seit fünf Jahren mit eiserner Faust, steckt alle ins Gefängnis, die ihm öffentlich widersprechen, duldet keine Opposition und macht alle platt, die es versuchen. "Schlimmer als Mubarak", darin sind sich die vier Journalisten einig. Keiner der vier darf derzeit publizieren.
Eine-Million-Märsche wie jetzt in Bagdad gab es auch im Frühling des Aufruhrs in Ägypten reichlich. Massenweise gingen die Nilbewohner auf die Straße. Nur zwei Wochen dauerte es, bis Mubarak zurücktrat. Das haben die Ägypter den Irakern voraus. In Bagdad hingegen ist Premier Adel Abdul Mahdi und seine Regierung nach acht Wochen zwar offiziell zurückgetreten, klebt aber am Stuhl fest, bis die nächste Regierung gebildet werde, die bis heute allerdings nicht abzusehen ist.
Nora ist verblüfft zu hören, dass die Iraker Symbole der Rebellion aus Ägypten übernommen haben: T-Shirts mit ähnlichen Aufschriften und dem Datum vom Beginn des Aufstands, Schals mit den Landesfarben, Galgen, an denen Puppen oder Fotos derjenigen hängen, die weg gehören. Der Enthusiasmus der Ägypter von damals lebt in den Irakern von heute fort, die Hoffnung, etwas verändern zu können, das Selbstbewusstsein, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Die Zeiten lebhafter Diskussionen, einer enormen Politisierung der Gesellschaft, echter Dialog und fruchtbare Auseinandersetzungen sind von Kairo nach Bagdad geflohen. Heute redet in Kairo niemand mehr über Politik, ohne sich nach allen Seiten umzuschauen oder gleich zu verstummen. "Angst essen Seele auf", hieß ein Film von Rainer Werner Fassbinder aus den 1970er Jahren. Das trifft genau den Punkt für die derzeitige Situation am Nil.
Iraks "Oktoberrevolution"
1.300 Kilometer vom Tahrir-Platz in Kairo entfernt, stehen die Menschen im strömenden Regen und harren aus. Nein, ein Arabischer Frühling 2.0, wie die Ägypter sagen, machen sie in Bagdad und im Südirak nicht. Sie nennen ihren Aufruhr Oktoberrevolution, weil er am 1. Oktober begann, der Regierung ein Ultimatum setzte zurückzutreten, um dann drei Wochen später mit doppelter Wucht erneut loszulegen, weil in der Zwischenzeit nichts passiert war.
Inzwischen ist eine Zeltstadt entstanden, die weit über den Tahrir-Platz hinausgeht und sich nach allen Seiten hin ausdehnt. Drei Brücken über den Tigris hatten die Protestler seit Monaten lahmgelegt und je zur Hälfte besetzt. Mehrere Versuche der Sicherheitskräfte, diese wieder frei zu kämpfen, waren fehlgeschlagen.
Erst nach den Versuchen des Schiitenklerikers Muktada al-Sadr, der die Protestbewegung spaltet, ist es den Sicherheitskräften gelungen, eine der drei blockierten Brücken wieder frei zu kämpfen. Außerdem haben sie die Belagerer von der Schnellstraße im Osten des Tahrir-Platzes verdrängen können.
Täglich wird gekämpft, um jeden Meter. Dabei werden immer härtere Geschosse eingesetzt. Auf Seiten der Sicherheitskräfte nicht mehr nur Tränengas und Lärmbomben, sondern jetzt auch tödliche Munition und Scharfschützen. Auch die Demonstranten bewaffnen sich mehr und mehr. Waren es anfangs noch Steine, Gummischleudern und Feuerwerkskörper, die sie gegen die Uniformierten warfen, sieht man jetzt zunehmend auch Molotowcocktails. Insgesamt sind im Irak inzwischen fast 500 Tote zu beklagen.
Auch in Kairo fand dieses Szenario vor neun Jahren statt. In den Seitenstraßen des Tahrir-Platzes gab es blutige Kämpfe. Die Mohammed Mahmoud-Straße ist hierfür bezeichnend. Tagelang lieferten sich Demonstranten und Sicherheitskräfte heftige Gefechte. Offiziell sind dabei 846 Menschen gestorben. Jedenfalls wurde Husni Mubarak später vor Gericht dafür verantwortlich gemacht.
Kairos Tahrir – ein Ort, den man besser meidet
Tatsächlich, so meinen Alaa und Abdal Galil, seien es über 1.000 Tote gewesen. Später dann, im August 2013 habe es nochmals über 130 Tote gegeben, als die ägyptischen Sicherheitskräfte ein riesiges Sit-in am Rabia-al-Adawiyya-Platz vor der gleichnamigen Moschee zugunsten ihres gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi blutig beendeten. Dieses Massaker hat jedoch der jetzige Präsident zu verantworten, der damals Feldmarschall der ägyptischen Armee war.
Bemerkenswert ist, dass sich Al-Sisi die Zustimmung für das brutale Vorgehen bei seinen Landsleuten holte, indem er sie aufrief, auf den Tahrir zu kommen und so mit den Füßen abzustimmen, ob er gegen die Muslimbrüder und ihren "Terror", wie er es nannte, vorgehen solle. Massen strömten auf den Platz, jubelten Al-Sisi zu und sangen die Nationalhymne.
Noors Vater wurde daraufhin auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz getötet, ihr Bruder sitzt seit Monaten ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis. Für Philip Hanna vom Goethe-Institut in Kairo ist dies mit ein Grund, dass derzeit nicht mehr Menschen gegen Al-Sisi protestieren, dass sie trotz zunehmender Unzufriedenheit nicht aufbegehren. Sie empfänden eine gewisse Scham, dass sie damals dem Blutvergießen zugestimmt hätten, fühlten eine Mittäterschaft.
So ist die einst leuchtende Ikone, der Tahrir-Platz in Kairo, zu einem Ort geworden, den man besser ignoriert. Während der Platz vor neun Jahren das Epizentrum der Bewegung darstellte und strahlende Augen bei Ägyptern und revolutionsbegeisterten Besuchern hervorrief, liegt er heute wie ein Aschenputtel da, das man am liebsten wegsperren würde.
Bauarbeiter sind gerade dabei, auch noch den letzten Rest von damals zu eliminieren. Die Pflastersteine werden entfernt und durch Zement ersetzt. Könnte ja doch sein, dass einige wieder auf die Idee kämen und sie als Wurfgeschosse gegen die Sicherheitskräfte einsetzten. Wie Ende September, als in Ägypten Hunderte gegen Al-Sisi auf die Straßen gingen und daraufhin 2000 verhaftet wurden.
Bagdads Tahrir – ein heiliger Ort
In Bagdad ist die Magie des Tahrir-Platzes noch nicht verpufft, obwohl die Demonstranten auch hier ahnen, dass sie auf kurz oder lang keine Chance haben, ihre Ziele zu erreichen. Die niedergebrannten Zelte sind bereits ersetzt worden, eine Solidaritätskundgebung von Tausenden Studenten ermuntert die Camper durchzuhalten. Denn am Tigris ist es nicht die Bewegung selbst, die sich in zermürbendem Streit ergießt wie in Kairo, wo jeder der Anführer sein wollte und sich als solchen feiern ließ.
In Bagdad gibt es auch drei Monate nach Beginn der Proteste keine Anführer. Und das aus gutem Grund. "Entweder die werden dann bestochen und mit Unsummen zum Schweigen gebracht", weiß Sarah, eine Medizinstudentin, die am Platz Essen verteilt. "Oder sie bringen sie gleich um."
Auch wenn es Anführer gäbe, würden sie keine Namen nennen. Nein, der zermürbende Streit für die Bewegung im Irak ist der Konflikt zwischen den USA und dem Iran. Der Iran, der derzeit alles dransetzt, den Einfluss im Irak nicht zu verlieren. Und die USA, die ihrerseits alles dransetzen, eben diesen Einfluss zurückzudrängen.
Sarah kommt jeden Freitag und bringt, was die, die am Tahrir ausharren, brauchen: Decken, Regenjacken, Schirme, Nahrungsmittel. Dieses Mal hat sie einen kleinen Ofen von zuhause mitgenommen, der mit Holz beheizt werden kann.
In Bagdad ist es derzeit sehr kalt nachts. Das Thermometer zeigt nur vier Grad. "Der Tahrir ist ein heiliger Ort", sagt sie und meint damit nicht das Zelt der irakischen Christen, die eine Fotomontage mit dem Platz, auf den Maria ihre schützende Hand hält, aufgeklebt haben. Sie denkt dabei vielmehr an die letzten Tage, als rundherum Kämpfe tobten, der Platz selbst aber weitgehend unangetastet blieb. Eine Oase für zumeist junge Iraker, die von einer besseren Zukunft träumen.
Birgit Svensson
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