Träume und Erwartungen
Weder ich noch andere haben erwartet, dass das irakische System in dieser atemberaubenden Geschwindigkeit stürzen wird. Dieses System, dass mit eiserner Faust und Brutalität regierte und die Menschen ihrer Hoffnungen und Träume beraubte. Es war das schnelle Ende einer schwarzen Geschichte, die mit Tränen und Blut geschrieben wurde.
Wir Iraker müssen an erster Stelle Selbstkritik üben und uns selbst kennen lernen, noch bevor wir zu Selbstverteidigungsstrategien greifen als Mittel der Selbsterhaltung. Zweitens müssen wir versuchen, ein neues soziales Bewusstsein zu schaffen, eine nationale Identität, die sich bemüht, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, die sich auf Freiheit, Pluralismus, Menschenrechte, Partizipation aller ethnischen, sozialen und religiösen Gruppen gründet. Wir müssen die Kultur der Gewalt ächten, die das vergangene System den Generationen eingeimpft hat, und wir müssen alle Symbole des Saddam-Regimes und seiner Handlanger entfernen, die nun plündern, zerstören und brandschatzen, nachdem sie ihre Macht über das Volk verloren haben.
Ich träume von einem neuen Irak, das frei ist von patriarchalischer Unterdrückung und einem Personenkult. Von einem stabilen, friedlichen und toleranten Irak. Wir haben genügend Tränen und Blut bezahlt. Ich träume von einer Heimat für alle Iraker, in dem sie sich zum ersten Mal frei fühlen können.
Obwohl ich Mitte 60 bin, träume ich von einem demokratischen Irak, in dem ich das Recht auf freie Wahlen hätte, in dem ich zu den Wahlurnen gehen und wählen kann, wen ich will, zum ersten Mal in meinem Leben, noch bevor ich sterbe. Ich möchte fühlen, dass ich eine Heimat und eine Identität habe.
Ibrahim Alhaidari, 1936 in Bagdad geboren, studierte in West-Berlin Soziologie, war Professor in Bagdad und Annaba/Algerien, lebt und arbeitet heute in London. Von ihm erschien zuletzt: Das Patriarchalische System und Sexualität bei den Arabern, Dar as-Saqi 2003.