Sorge um die streunenden Hunde

Istanbul streunender Hund vor einem Geschäft
Streunender Hund vor einem Geschäft: In vielen Großstädten der Türkei leben die Tiere selbstverständlich mit den Menschen zusammen. Doch am 20. Mail erklärte Präsident Erdogan, ihre Zahl gerate außer Kontrolle und er wolle keine Hunde mehr auf den Straßen sehen. (Foto: Mehmet Diren)

Die türkische Regierung hat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die massenhafte Tötung von streunenden Hunden vorsieht. Tierschützer sind alarmiert. Andere weisen darauf hin, dass die Angriffe von Hunden immer bedrohlicher werden.

Von Ayşe Karabat

Viele Menschen in der Türkei sind tierlieb. In vielen Großstädten des Landes leben streunende Hunde harmonisch mit den Menschen zusammen. 

Doch seit dem 20. Mai sind Tierfreunde in großer Sorge. An diesem Tag forderte der türkische Präsident Erdoğan seine regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) auf, das seit langem bestehende Problem der streunenden Hunde zu lösen. 

Erdoğan erklärte, dass das Problem allmählich außer Kontrolle gerate und er keine Hunde mehr auf den Straßen sehen wolle. Doch viele Türken hegen eine gewisse Zuneigung zu streunenden Hunden

In vielen Stadtvierteln türkischer Städte, vor allem in Istanbul, gibt es regelrechte “Nachbarschaftshunde”. Die Bewohner des Viertels kennen sie alle mit Namen. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Menschen die Tiere füttern und ihnen ein Zuhause geben. 

Istanbul streunender Hund in einem Park
Streunender Hund in einem Park: Viele Türken hegen eine gewisse Zuneigung zu streunenden Hunden. In vielen Stadtvierteln türkischer Städte, vor allem in Istanbul, gibt es regelrechte “Nachbarschaftshunde”. Die Bewohner des Viertels kennen sie alle mit Namen. (Foto: Mehmet Diren)

Angst vor aggressiven Hunden

Die Versorgung von Streunern hat in der Türkei eine Tradition, die bis in die osmanische Zeit zurückreicht. Damals gab es sogar vom Staat bezahlte Mitarbeiter, die sich um die Tiere kümmerten. Doch es sieht so aus, als ob diese Koexistenz von Menschen und streunenden Hunden bald ein Ende haben könnte.  

Immer mehr Menschen beklagen sich, sie hätten Angst haben, von Hunden angegriffen zu werden. Auf X sind viele Videos solcher aggressiven Hunde zu sehen, die Menschen angreifen. Sogar Autounfälle sollen von ihnen verursacht worden sein. 

Genervt von den Angriffen und unter Verweis darauf, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Türkei als Hochrisikoland für Tollwut einstuft, haben Aktivisten unter dem Slogan "Wir wollen Straßen ohne Hunde!" die Regierung davon überzeugt, ein Gesetz zu erlassen, das die Zahl der streunenden Hunde eindämmen soll. 

"In keinem anderen entwickelten Land gibt es ein Problem mit streunenden Hunden wie bei uns", sagte Erdogan am 29. Mai und forderte "radikalere Maßnahmen". Bei Tierschützern löste der Gesetzesentwurf jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Sie befürchten landesweite Massentötungen von Hunden, sollte das Gesetz in Kraft treten.  

Schlafender Hund vor einem Café
Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht vor, dass Hunde eingeschläfert werden, wenn sich kein Zuhause für sie finden sollte. Schon heute sind die Gemeinden verpflichtet, streunende Tiere zu kastrieren. Künftig sollen Straßenhunde eingefangen und fotografiert werden. (Foto: Mehmet Diren)

Suche nach einem neuen Zuhause

Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht vor, dass Hunde eingeschläfert werden, wenn sich kein Zuhause für sie finden sollte. Schon heute sind die Gemeinden verpflichtet, streunende Tiere zu kastrieren. Künftig sollen Straßenhunde eingefangen und fotografiert werden. 

Die Fotos werden dann für 30 Tage auf der Website der Gemeinde veröffentlicht. Die Hunde sollen in dieser Zeit in Tierheimen untergebracht werden. Die meisten Gemeinden unterhalten allerdings keine Tierheime. 

Allen Hunden, die ein neues Zuhause finden, soll dann ein Chip implantiert werden, mit dem sie für den Rest ihres Lebens geortet werden können. Findet ein Hund innerhalb von 30 Tagen kein neues Zuhause, wird er eingeschläfert. Danach wird eine weitere Gruppe von Hunden in die Tierheime gebracht, die das gleiche Schicksal erwartet. So soll es weitergehen, bis auch der letzte herrenlose Hund von den Straßen verschwunden ist. 

Als die Einzelheiten des Gesetzesentwurfs bekannt wurden, reagierten nicht nur Tierschützer, sondern auch viele andere Menschen empört. Im ganzen Land kam es zu Protesten. Am 2. Juni versammelten sich Tausende von Demonstranten in den großen türkischen Provinzen, darunter Istanbul, Ankara und Izmir, und riefen: "Nein zum Massaker!” 

"Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, wird es zu einem in der Geschichte unseres Landes beispiellosen Massaker an Tieren kommen", erklärte die türkische Anwaltsvereinigung. 

Die Straßentiere, die seit Jahrhunderten Teil des Landes seien und stets als "liebe Freunde" bezeichnet wurden, hätten etwas Besseres verdient als ein Todesurteil oder die Einweisung in ein Lager, in dem sie sicher zugrunde gehen.  

Istanbul zwei Hunde vor einem Café
Als die Einzelheiten des neuen Gesetzesentwurfs bekannt wurden, reagierten nicht nur Tierschützer, sondern auch viele andere Menschen empört. Im ganzen Land kam es zu Protesten. Am 2. Juni versammelten sich Tausende von Demonstranten in den großen türkischen Provinzen, darunter Istanbul, Ankara und Izmir, und riefen: "Nein zum Massaker!” (Foto: Mehmet Diren)

Gemeinden kommen ihrer Verpflichtung nicht nach

Das zuletzt im Jahr 2021 revidierte Tierschutzgesetz verpflichtet die Gemeinden, über einen Zeitraum von drei Jahren 0,5 Prozent ihres Haushalts für Tierheime und die Rehabilitation von Tieren aufzuwenden. Für Großstädte beträgt diese Quote 0,3 Prozent. Außerdem schreibt die Gesetzesnovelle die Einrichtung von Tierheimen bis Ende 2024 verbindlich vor. Viele Kommunen haben es jedoch versäumt, sich darum zu kümmern. 

Nach Angaben der Animal Rights Federation verfügen 1.100 der insgesamt 1.394 türkischen Gemeinden nicht über ein Tierheim. Dort, wo es sie gibt, fehlen effektive Kastrationsprogramme. Tierschützer befürchten daher, dass die streunenden Hunde im Falle einer Verabschiedung des Gesetzes massenhaft getötet werden. 

Diese Befürchtung ist nicht unbegründet. In den sozialen Netzwerken kursieren zahlreiche Bilder, die zeigen, unter welch schlechten Bedingungen die Tiere in den Tierheimen leben. Ein Video, das zeigt, wie ein Hund in einem städtischen Tierheim in der zentralanatolischen Provinz Konya zu Tode geprügelt wird, löste 2022 heftige Reaktionen aus. 

Im selben Jahr bezeichnete die Staatsanwaltschaft in der östlichen Provinz Elâzığ die Behandlung von Tieren in einem von der Gemeinde betriebenen Tierheim als "Völkermord": In nur vier Monaten waren dort 1.062 Tiere gestorben. 

Miserable Bedingungen in den Tierheimen

Rojda Kuruş von der Tierschutzkommission der Anwaltskammer Izmir erinnert an diese Vorfälle und weist darauf hin, dass nach Fertigstellung des Gesetzentwurfes Tiere auch ohne Vollnarkose eingeschläfert werden könnten. 

Tierschützer sind der Meinung, die beste Lösung für das Problem der streunenden Hunde wäre ein Massenkastrationsprogramm. Danach sollten die Hunde in die Gebiete zurückgebracht werden, in denen sie vor dem Einfangen gelebt haben. 

Alper Karmış, Vorsitzender eines Vereins zur Rettung von Straßenhunden, wies auf die miserablen Bedingungen in den Tierheimen hin. Er erklärte, die Kastrationen in der Türkei scheiterten daran, dass sich die Gemeinden nicht an die Gesetze hielten und der Staat ihre Umsetzung nicht kontrolliere. 

"Die Zahl der Hunde nimmt stark zu. Wir brauchen dringend eine landesweite Kastrationskampagne. Hunde, die Menschen jagen und Rudel bilden, sollten in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen und Freiwilligen rehabilitiert werden“, so Karmış.  

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Nur wenige Hunde werden vermittelt

Nach den heftigen Reaktionen von Tierschützern und anderen Bürgern sagte Erdoğan, er hoffe, dass alle Tiere in den Tierheimen untergebracht und die Gemeinden ihrer Verantwortung nachkommen würden. Er glaube, so Erdoğan, damit wäre ein "großes Problem gelöst" und weitere Maßnahmen seien nicht notwendig. 

Hundehaltung ist in der Türkei allerdings nicht üblich. Nur fünf Prozent der Bevölkerung besitzen einen Hund. Das ist europaweit der niedrigste Wert. In anderen europäischen Ländern sind die Zahlen deutlich höher. In Deutschland sind es 21 Prozent und in Großbritannien 23 Prozent, wie eine Umfrage der populären Wissenschaftsorganisation Evrim Ağacı ergab. 

Für diese niedrige Quote gibt es mehrere Gründe. Hundefutter ist wegen der Mehrwertsteuer von 18 Prozent sehr teuer. Tierschützer fordern eine Senkung auf lediglich einen Prozent. Die Wohnungen in der Türkei sind relativ klein, vor allem in den Großstädten. Zudem gibt es nur wenige Parks, in denen Hunde Gassi gehen können. Vermieter und Nachbarn fühlen sich oft durch Hundegebell gestört. 

Auch kulturelle Hürden stehen der Hundehaltung entgegen: Einige islamische Denkschulen raten davon ab, Hunde im Haus zu halten. Andere empfehlen sogar, sich nach der Berührung eines Hundes rituell zu waschen. 

Die regierende AKP will den Gesetzesentwurf noch im August verabschieden. Tierschützer fordern dagegen eine Änderung, die dem Tierschutz in der Türkei Rechnung trägt. Sie wollen den Hunden ein ähnliches Schicksal wie 1910 ersparen. Damals wurden 80.000 Hunde aus Istanbul auf die verlassene Insel Sivriada im Marmarameer gebracht, wo sie verhungerten und verdursteten – die Insel heißt seitdem "Hayırsızada" (Verlassene Insel). 

Der Gesetzesentwurf hat die bestehende gesellschaftliche Polarisierung bereits verstärkt. Alle sind sich jedoch einig, dass die Hundepopulation weiter unkontrolliert wachsen wird, wenn nicht die notwendigen Haushaltsmittel bereitgestellt und Präventivmaßnahmen ergriffen werden. 

Ayşe Karabat 

© Qantara.de 2024 

Aus dem Englischen übersetzt von Gabi Lammers