Plakate soweit das Auge reicht
Wer in diesen Tagen auf Jordaniens Straßen unterwegs ist, vor allem in der Hauptstadt Amman, kann es nicht übersehen: Das Land befindet sich im Wahlkampf. An jeder Straßenecke, jeder Kreuzung und an jeder Brücke hängen Wahlplakate. Auf Karton gedruckt lächeln Männer in Anzug und Krawatte den Passant*innen entgegen. Eine Frau mit langen braunen Haaren und ein älterer Mann mit roter Kufiya blicken ebenso freundlich, eine andere Kandidatin posiert mit Gesichtsschleier.
Vor der Parlamentswahl am Dienstag sind es die Plakate der etwa 1.600 unabhängigen und parteigebundenen Kandidat*innen, die in den sozialen Netzwerken diskutiert werden. „Die Straßen Ammans in ihrem hässlichsten Zustand“, schreibt ein Nutzer auf X. So viele haben sich über diesen Dschungel aus Wahlwerbung beschwert, dass das Thema auch von lokalen Medien aufgegriffen wurde. Dass Straßenoptik und Verkehrssicherheit die Debatte prägen und nicht politische Inhalte, ist vielsagend.
2021 hatte der jordanische König, Abdullah II., eine Modernisierung des politischen Systems angekündigt. Ein neues Parteiensystem sollte entstehen, weg von der Vetternwirtschaft und Stammesloyalität, die bislang die Parlamentswahlen dominiert hatten, hin zu demokratischen, parteibasierten Kräften. Ein Jahr später traten mehrere Gesetzesänderungen in Kraft, unter anderem ein neues Parteiengesetz.
Die Reform führt neben der bislang üblichen Direktwahl von oft unabhängigen Kandidat*innen auch nationale Parteilisten ein. Zugelassene Parteien müssen mindestens 1.000 Mitglieder haben, dabei gelten Quoten von jeweils zwanzig Prozent für Frauen und Unter-35-Jährige. 41 von 138 Parlamentssitzen sind für die Parteien reserviert. Die anderen werden nach wie vor durch Direktwahl der Kandidat*innen bestimmt. Ein weiterer, viel beachteter Aspekt der Reform ist die Festlegung, dass niemand mehr wegen seiner Parteimitgliedschaft rechtlich verfolgt werden darf.
Hintergrund der Reform war die niedrige Wahlbeteiligung 2020, als mit knapp 30 Prozent so wenige Bürger*innen ihre Stimme abgaben wie seit den neunziger Jahren nicht mehr. In der Vergangenheit prägten vor allem familiäre Verbindungen den Wahlkampf; die Parteien hatten kaum Gewicht. 2020 gewannen Parteivertreter*innen lediglich 17 Sitze, von denen die meisten an islamische Parteien gingen. Alle anderen Mandate gingen an unabhängige Kandidat*innen.
Stärkt die Reform den König?
Der Leiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Jordanien, Edmund Ratka, sieht die Reform erst einmal positiv: „Sie ist schon ein Schritt nach vorne, jedenfalls auf dem Papier“, sagt er gegenüber Qantara. Das Gesetz habe die Parteien „aus der Schmuddelecke“ geholt und mehr Frauen in die Parteiführungen gebracht. Und wer sich unter den Jüngeren generell für Politik interessiere, zeige gesteigertes Engagement, beobachtet Ratka.
Ähnlich sieht es Ahmed al-Khawaldeh, ein 26-jähriger Bauingenieur, der seit seiner Uni-Zeit politisch aktiv ist. Im aktuellen Wahlkampf arbeitet er ehrenamtlich für einen Kandidaten der Partei Al-Watan im nordjordanischen Mafraq. „Ich kann definitiv eine höhere Teilnahme von jungen Politiker*innen erkennen, seitdem das Gesetz verabschiedet wurde”, sagt er, „das macht mich glücklich.“
Bei der Umsetzung der Reform gebe es allerdings Probleme, findet Ratka. „Man sieht, dass der Staat jetzt Parteien möchte, aber immer noch ein wenig die Hand draufhält.“ Vor allem regierungskritische Parteien klagen immer wieder, dass manche ihrer Mitglieder schikaniert werden. Die Menschenrechtsorganisation Dawn hatte bereits im Juni die Schließung von 19 Parteien sowie die Verhaftung und Einschüchterung von mehreren Parteimitgliedern moniert. Die Regierung ließ eine Qantara-Anfrage zum Thema unbeantwortet, hat aber immer wieder auf die hohe Zahl zugelassener Parteien verwiesen.
Kritik gab es bereits nach der Verabschiedung der Reform 2022: Statt die Rolle der Parteien wirklich auszubauen, würde die Macht des Königs gestärkt, der ohnehin bereits den Regierungs- und den Armeechef, alle Senatsmitglieder und weitere hochrangige Amtsträger ernennt. Das Parlament kann in Jordanien zwar Gesetzesentwürfe ändern oder ablehnen und Abgeordnete dürfen Gesetzesvorschläge einreichen. Da die Parteien im Unterhaus aber lediglich 30 Prozent der Sitze bekommen, die Gesetze vom König ratifiziert werden müssen und der Regierungschef vom König ernannt wird, bleibt die Macht der Parteien und des Parlaments aber eingeschränkt.
Gazakrieg könnte islamischen Parteien Rückenwind geben
Unter vorgehaltener Hand sehen dies manche als eine Art Schutz, etwa vor einer Übernahme der Macht durch Islamist*innen. Die einzig „starken“ Parteien waren bislang die islamischen Gruppen, in erster Linie die Islamische Aktionsfront (IAF), der politische Arm der Muslimbrüder in Jordanien. Der Krieg in Gaza könnte den Islamist*innen bei dieser Wahl noch in die Karten spielen. Manch ein Experte prophezeit bereits den Sieg der IAF, die schon immer stark israelkritisch war und seit Beginn des Kriegs mehrere Demonstrationen angeführt hat.
Die IAF erkennt den Friedensvertrag zwischen Jordanien und Israel von 1994 nicht an und plädiert für ein „freies Palästina vom Fluss bis zum Meer“ sowie für „Unterstützung für den Widerstand“. Mehrere andere Parteien sind auf diesen Zug aufgesprungen: Nicht nur islamische, sondern auch säkulare Parteien solidarisieren sich mit den Palästinenser*innen, fordern einen Waffenstillstand und einen palästinensischen Staat.
Allerdings wäre selbst im Fall eines Wahlsiegs von Islamist*innen eine vollkommene Umstellung der Gesellschaft und der Außenpolitik Jordaniens äußerst unwahrscheinlich. Die IAF etwa verneint vehement, das System oder das Land grundlegend umgestalten zu wollen. „Die Muslimbruderschaft ist verwurzelt in der jordanischen Tradition und dem Respekt für das jordanische Gesetz“, sagt IAF-Sprecherin Dima Tahboub gegenüber Qantara.
„Jordanien wird am Tag nach den Wahlen nicht anders sein als heute“, mutmaßt auch Ratka. Dafür sorge der begrenzte Spielraum der politischen Kräfte. Es ist ein eingezäuntes Demokratie-Experiment. „Ich nenne es das jordanische Paradox: Partizipation und Kontrolle“, sagt Ratka.
„Ich habe kein Vertrauen in das System”
Die Erwartungen der politischen Akteure waren hoch, dass sich nach der Reform etwas an der Skepsis der jordanischen Wähler*innen ändert. Bislang hält sich die Begeisterung aber in Grenzen. Laut einer Umfrage des Unternehmens Nama Strategic Intelligence Solutions wollen nur knapp 35 Prozent der 5,1 Millionen registrierten Wähler*innen am Dienstag abstimmen – lediglich fünf Prozentpunkte mehr als bei der letzten Parlamentswahl. Demnach könnten bis zu vier Fünftel für eine der 38 zugelassenen Parteien stimmen. Eine 2,5-Prozenthürde macht es für kleinere Gruppen jedoch schwer, ins Parlament einzuziehen.
Wer keine Partei wählen will, gab in der Umfrage als Grund häufig an, Parteien seien ineffizient, hielten ihr Wort nicht oder seien nicht überzeugend oder informativ genug. „Ich bin nicht an den Wahlen interessiert“, sagt etwa eine 19-jährige Frau mit schwarzem Kopftuch, die in einem Café in Amman arbeitet und anonym bleiben möchte. „Ich bin noch jung und habe nicht genug Informationen dazu“, fügt sie hinzu. „Vielleicht ändert sich das, wenn ich demnächst mein Wirtschaftsstudium anfange.“ Die vielen Wahlplakate findet sie wenig hilfreich.
Geschichte und der Krieg in Gaza
Laut dem amerikanisch-palästinensischen Historiker Rashid Khalidi sind der Nahostkonflikt und der Krieg in Gaza in vielerlei Hinsicht eine Folge imperialer Interventionen. „Eine Lösung kann nur darauf beruhen, festgefahrene Strukturen der Vorherrschaft und Diskriminierung aufzubrechen", betont er. Nur so lasse sich eine Zwei-Staaten-Lösung realisieren.
Zwiegespalten zeigt sich hingegen ihre 23-jährige Schwester, die Englisch und Spanisch studiert. „Ich habe kein Vertrauen in das System und habe bislang noch nie gewählt. Ich weiß zwar, dass es wichtig ist, wählen zu gehen. Sonst gewinnt jemand anders. Aber ich bin von den Wahlprogrammen, die man jetzt sieht, nicht überzeugt. Das System ist kaputt“, sagt sie. Mehr Ehrlichkeit brauche man, und mehr Freiheit.
Bis auf einige Fälle von Korruption haben neben der Aufregung über die Wahlplakate außenpolitische Themen wie der Gazakrieg die Debatten in Jordanien dominiert. Innenpolitische Themen haben weniger eine Rolle gespielt. Viele Parteien müssen offenbar noch in ihre neue Rolle hineinwachsen. Auch der Fokus auf Kandidat*innenportraits scheint ein Überbleibsel aus der personenzentrierten Vergangenheit zu sein. Jordanien-Experte Ratka sagt: „Wir sind im Anfangsstadium eines neuen Systems, hängen aber noch mit einem Fuß im alten.“ Wie weit sich die Jordanier*innen auf das neue System einlassen, wird sich bei der Wahl am Dienstag zeigen.
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