Zwischen Krieg und Freiheitsdrang
Kann man achtzehn Menschen in einem Auto mit vier Sitzen unterbringen? Die Antwort ist ungemütlich, wird von manchem Schlepper an der iranisch-afghanischen Grenze aber eindeutig mit ja beantwortet.
Was wie die Grundlage eines Sketches klingt, ist für die Erzählerin bittere Realität. Zwar gehört sie selbst nicht zu jenen, die da neben- und übereinander gestapelt in den Wagen gezwängt sind, dessen Inneres nach menschlichen Ausscheidungen stinkt.
Nein, sie ist nur Beobachterin, will sehen, wie das abläuft, wie jene Menschen über die Grenze kommen, die es legal nicht können. Aber das ändert nichts an ihrem Entsetzen. Zumal sie selbst es besser hatte, ihr Leben lang eine legale Grenzgängerin zwischen Iran und Afghanistan war.
Die Rede ist von der 1981 geborenen Autorin Aliyeh Ataei, deren Buch „Im Land der Vergessenen“ nun bei Luchterhand in Übersetzung von Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow auf Deutsch vorliegt. Ursprünglich erschien es 2021 auf Persisch im renommierten Teheraner Verlag Cheshmeh, wie auch schon Ataeis vorherige Bücher, und wurde dort als Buch des Jahres ausgezeichnet.
Damit keine Missverständnisse aufkommen, stellt Ataei direkt im Vorwort, das in der persischen Originalausgabe nicht enthalten ist, klar: Die neun Erzählungen in dieser Sammlung sind nicht fiktiv, auch nicht autofiktional, sondern die reine Wahrheit, das eigene Erleben der Autorin.
Sie schreibt von sich und ihrer Familie, von Kindheit und Jugend zwischen Krieg und Freiheitsdrang – und zwar höchst authentisch und direkt, in einer klaren, oft nüchtern berichtenden Sprache, die für ihre Themen vielleicht wirklich besser geeignet ist als eine metaphernreiche Erzählprosa.
Ataei, die im Iran geboren wurde und deren Familie aus Afghanistan stammt, die mittlerweile aber in Paris lebt, schreibt:
„Heimat war für mich ein abstrakter Begriff. Selbst hier, während ich in diesem Café saß und auf einen Kaffee wartete, kämpfte ich darum, eine Verbindung zu Kabul zu finden. Aber es gelang mir nicht. Es war, als ob die Heimat für den Exilanten nur noch eine Form ohne Inhalt wäre, die er die ganze Zeit zu füllen versuchte.“
Über Generationen, seit Jahrzehnten, ist Afghanistan ein Land im Kriegszustand, das von einer Besatzung zur anderen taumelt, dessen Bevölkerung ewiger Willkür ausgeliefert ist. Daran ändert auch die kurze Phase zwischen Entmachtung und Rückkehr der Taliban wenig.
Und Iran? Dort leben rund 3,5 Millionen afghanische Flüchtlinge, meist unter widrigen Umständen, in Armut und ständigem Rassismus ausgesetzt. Aktuell plant die Regierung in Teheran, mehr als die Hälfte von ihnen abzuschieben.
Afghanen als Sündenböcke
Im Krieg mit Israel schürt das Regime in Teheran das Misstrauen gegenüber afghanischen Geflüchteten. Dabei sind ausgerechnet sie den israelischen Luftangriffen am schutzlosesten ausgeliefert.
Und doch beschreibt Ataei Teheran, wo sie lebte, bis sie 2023 nach Paris auswanderte, an einer Stelle als ihre Stadt der Freiheit, was angesichts der Verhältnisse im Iran, ganz besonders für Frauen, erstmal verwundern muss, im Vergleich mit dem, was sie aus Afghanistan erzählt, dann aber einleuchtet.
Frauen im Kampf gegen Willkür
Im Kontrast dazu wiederum steht das Vorwort, in dem Ataei erzählt, wie sie während der Frau-Leben-Freiheit-Proteste von der Straße die Stimmen der Frauen und die Gewehrsalven hörte, und sich fragte, ob die Frauen, die dort demonstrierten, morgen noch leben würden. Sie bewundert ihren Mut. Und gibt ihnen eine literarische Stimme.
In fast jeder der Erzählungen steht die Geschichte einer Frau im Mittelpunkt, von den frühen achtziger Jahren bis etwa 2017, und in jeder einzelnen erzählt sie neben den eingangs erwähnten Identitätsfragen von Leben, die auf gleich mehreren Ebenen Einflüssen von Willkür ausgeliefert sind – und sich dagegen wehren, und sei es nur in ganz kleinen Schritten im Privaten.
Die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung wurde konkret von der Ermordung einer jungen kurdischen Frau, Jina Mahsa Amini, durch iranische „Sicherheitskräfte“ ausgelöst. Aber wäre das nicht geschehen, hätte es einen anderen Auslöser gegeben.
Auch das macht Ataeis Buch klar: Eine Gesellschaftsform, die Frauen systematisch benachteiligt, hat keine Zukunft und wird auch auf Dauer nicht bestehen können, weil der sich auf unzähligen Ebenen aufbauende Widerstand irgendwann zu groß wird.
„Im Land der Vergessenen“ ist einer dieser literarischen Glücksfälle, die demonstrieren, dass Literatur immer auch ein Seismograph ist, der voraussieht und nachspürt, was in einer Gesellschaft brodelt.
Aliyeh Ataei: "Im Land der Vergessenen"
Aus dem Persischen von Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow
Luchterhand Verlag (Penguin Random House Verlagsgruppe)
September 2025
192 Seiten
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