„Carmen“ als patriarchale Erzählung

Eine Theaterproduktion von „Carmen“ wird seit über drei Monaten im Taliaa-Theater – einer der staatlich finanzierten Bühnen in Kairo – aufgeführt und erfreut sich großer Beliebtheit bei den Zuschauer:innen. Besonders das Bühnenbild, die Choreografie und die Erzählung werden hochgelobt. Das Stück nach der Novelle von Prosper Mérimée aus dem Jahr 1845 spielt in der gleichen Zeit und am gleichen Ort wie das Original: Im Spanien des Jahres 1820.
Die Inszenierung, bei der Nasser Abdel Moneim Regie führte und Mohamed Ali Ibrahim das Drehbuch schrieb, übernimmt jedoch die patriarchalische Sichtweise der ägyptischen Gesellschaft. Frauen werden als Ursache für sowohl das Versagen der Männer als auch für ihre Gewalt dargestellt. Es ist eine Perspektive, in der Frauen die Sünde mit sich bringen, sie stellen beinahe die Verkörperung des „größten Übels“ dar.
Mérimées Novelle erzählt die Geschichte von José, der vom ehemaligen spanischen Polizeioffizier zum Geächteten wurde. Er verliebt sich in eine Roma-Frau namens Carmen. Diese erwidert seine Liebe leidenschaftlich, doch wird sie seiner Obsession schließlich überdrüssig und verliebt sich in einen anderen Mann. Als José von ihrer Untreue erfährt, gibt er ihr ein Ultimatum: Entweder zieht sie mit ihm an einen anderen Ort, oder er wird sie töten. Carmen entscheidet sich für den Tod und gegen ein Leben ohne Freiheit.
Die Roma sind eine ethnische Gruppe, deren Wurzeln nach Südasien reichen, vor allem auf den indischen Subkontinent. Sie sind für ihren nomadischen Lebensstil, einzigartige Traditionen und ihre Sprachvielfalt bekannt, die je nach Herkunftsregion variiert.
Im Gegensatz zum unabhängigen und rebellischen Charakter in der Novelle, fehlen der in Kairo dargestellten Carmen echte Emotionen und ethische Prinzipien. Gespielt von der jungen Schauspielerin Reem Ahmed, ist Carmen hier manipulativ, sie erreicht ihre Ziele durch Verführung und Betrug. Die Choreografie unterstreicht diese Charakterzüge noch. Sie ist zwar gut und abwechslungsreich aufgeführt, wirkt aber aggressiv und angespannt – manchmal sogar verkrampft.
Im Laufe des Stücks versucht Carmen auf der Bühne in Kairo, José zu manipulieren. Sie bringt ihn dazu, ihr bei der Flucht zu helfen und begleicht die Rechnung mit körperlicher Nähe. Später wiederholt sie diese Form der geschäftsmäßigen Intimität als Gegenleistung für Hilfe beim Schmuggel von Waren.

Die Befreiung der Frau wird ausgelassen
Die ursprüngliche Figur der Carmen wird von einer Freiheit beseelt, die sie sich selbst erkämpft hat, ohne sich auf andere verlassen zu müssen. In Kairo wird jegliche Vorstellung von der Befreiung der Frau herabgesetzt, indem Carmen als frivol und letztlich von Männern abhängig dargestellt wird.
In der Novelle reflektiert José über Carmen und die Gemeinschaft der Roma: „Für Leute wie sie ist Freiheit alles. Einer von ihnen würde eher eine ganze Stadt abbrennen, als auch nur einen Tag im Gefängnis zu verbringen“. In einer anderen Passage erklärt Carmen mutig: „Ich werde mich niemandem unterwerfen. Alles, was ich in diesem Leben brauche, ist, frei zu sein und zu tun, was ich will. Also übertreibe nicht mit dem Versuch, mich zu kontrollieren.”
Das Thema Freiheit kommt in der ägyptischen Produktion nur zweimal vor. In der ersten Szene erinnert sich Carmens Roma-Ehemann Garcia daran, wie er seinen ersten Raubüberfall überlebte. Allerdings verpasste ihm der angegriffene Wohnwagenbesitzer eine Narbe im Gesicht. Überraschenderweise verzieh der Mann ihm danach mit der Bemerkung: „Freiheit hat ihren Preis“. Garcia kommt zwar nicht ins Gefängnis, bezahlt aber mit der Narbe für seine Freiheit. Diese wird also nicht als Ideal gefeiert, der Satz warnt eher vor ihr.
In einer weiteren Szene sagt José über Carmen: „Ich habe sie befreit und zahle dafür den Preis“ – womit er das patriarchale Vorurteil perfekt verkörpert, nachdem die Befreiung einer Frau immer durch einen Mann geschehen muss, der wiederum selbstverständlich unter den Konsequenzen leidet.
Die Inszenierung weicht nicht nur in den Dialogen vom Original ab, sondern auch in der Handlung. In einer Szene duellieren sich Carmens Ehemann und José. Als José aus Versehen sein Messer fallen lässt, fleht er Carmen an, es ihm zurückzugeben. Stattdessen wirft sie es ihrem Ehemann zu – eine Geste, die ausdrücken soll, dass sie José nie geliebt und ihn nur benutzt hat.

Der steinige Weg zur Gleichberechtigung
Exakt vor drei Jahrzehnten war mir selbst aufgrund meines Geschlechts ein Arbeitsplatz als Bauleiterin in einem Erdölunternehmen verweigert worden. Aus dem Ablehnungsschreiben ging deutlich hervor, dass das Unternehmen den Job lieber männlichen Ingenieuren anbieten würde. Von Alexandra Kinias
Im ägyptischen Stück gilt ihre Loyalität ihrem Ehemann, dem angemessen, wie zentral das Eheversprechen und Treue in der ägyptischen Gesellschaft sind. In Mérimées Erzählung hingegen entscheidet sich Carmen für José und gegen ihren Mann. Sie wirft José gar vor, sich in ihrer Abwesenheit mit ihrem Mann zu duellieren – aus Angst, der Ehemann könnte gewinnen und ihr den Geliebten wegnehmen.
In ihrer Beziehung mit dem dritten Mann – einem Stierkämpfer – stellt das Stück Carmen als hinterlistig dar. Sie heuchelt Interesse an ihm und lockt ihn in eine Spielhölle, wo er sein ganzes Geld verprasst. Die Darstellung steht in starkem Kontrast zur Novelle, wo Carmen und der Stierkämpfer sich ineinander verlieben. Sie jubelt ihm in der Arena zu und kann den Anblick kaum ertragen, wenn er verwundet wird.
Der Theaterkritiker Khaled Ashour sieht in der perversen Wandlung der Carmen von einem „Symbol der Freiheit“ zur „gefallenen Frau“ die Zeichen eines schwerwiegenden künstlerischen Niedergangs. Im Gespräch mit Qantara sagt er: „Manche Kritiker:innen nennen schon eine reine Übersetzung Verrat am Original, da nicht alle Worte in einer anderen Sprache dieselbe Bedeutungsnuancen haben. Was machen wir also im Falle einer völligen Umkehrung des philosophischen Kerns einer Erzählung?“
Früher war man fortschrittlicher
Die aktuelle Adaption ist nicht die erste ägyptische Version von „Carmen“. Der bekannte Regisseur und Schauspieler Mohamed Sobhi brachte das Stück 1999 auf die Bühne. Erstaunlicherweise wirkt seine Adaption heute, 25 Jahre später und im Vergleich zur aktuellen rückständigen Produktion, wie ein Leuchtturm der Progressivität.
Sobhis Carmen war ein politisches Symbol der Freiheit angesichts der Diktatur. In seiner Adaption drehte sich die Handlung um einen tyrannischen Theaterdirektor, der versucht, „Carmen“ zu inszenieren, und dabei mit einer abweichenden Hauptdarstellerin aneinandergerät. Später inspiriert diese ihre Kolleg:innen zur Revolte gegen den Tyrannen.
Der Regisseur Nasser Abdel Moneim verteidigt seine jüngste Adaption: „Carmen ist eine kontroverse Figur, deren Wesen in der Idee der absoluten Freiheit liegt. Freiheit ohne Bindung an jedwede Person, unabhängig davon, wie sehr sie diese liebt. Doch Freiheit hat ihren Preis, in diesem Falle ist der Preis ihr Leben.“

Im Gespräch mit Qantara fügte er hinzu, dass er „den Ereignissen der ursprünglichen Novelle treu geblieben“ sei und nicht beabsichtigt habe, „ein Urteil über den Charakter von Carmen zu fällen“. Vielmehr wolle er dies „dem Publikum überlassen“. Er wies auf das Dilemma der körperlichen Freiheit hin, das von Kultur zu Kultur unterschiedlich bewertet werde. Für die einen sei Carmen ein Symbol der Befreiung, für die anderen einfach eine Hure.
Kritiker Essam Zakaria bezeichnet es als „depremierend“, ein so fundamental progressives Stück in ein „reaktionäres“ verwandelt zu sehen. Er sieht darin die vorherrschende Mentalität der Gesellschaft widergespiegelt, die Originalwerke an die eigene kulturelle Linse anpasst.
Er erwähnte „König Lear“ von Shakespeare, das in der arabischen Literatur vielfach adaptiert wurde. In einigen Versionen wird die Geschichte durch die Brille von Uquq al-Ābā (Respektlosigkeit oder Ungehorsam gegenüber den Eltern) interpretiert, was im Islam als haram gilt und in arabischen Gesellschaften ein kulturelles Tabu ist. In anderen Adaptionen wiederum wird die Rolle der jüngsten Tochter Cordelia – der klügsten und letztlich nobelsten Figur – ausgeklammert, was die allgemeine patriarchalische Marginalisierung der Frau widerspiegelt.
Die feministische Aktivistin Shaimaa Sami erklärte gegenüber Qantara, dass künstlerische Werke, in denen Frauen härter verurteilt werden als Männer „eine Reproduktion frauenfeindlicher Diskurse“ sei, welche „in Machtstrukturen verankert sind, die Frauen als böse Huren darstellt, die ihr Schicksal verdient haben“. Sie fügt hinzu: „Es ist ein Weg, die systemische Gewalt gegen Frauen zu beschönigen.“
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung aus dem Englischen von Clara Taxis.
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