„Baha Targün war der migrantische Dutschke“

Schwarz-weiß Bild von Männern, die vor einer Wand stehen. Auf der Wand ist das Firmenlogo von Ford zu sehen.
Wendepunkt der bundesdeutschen Geschichte: streikende Gastarbeiter:innen in Köln (Foto: Picture Alliance | Klaus Rose)

1973 streikten die Gastarbeiter:innen der Kölner Ford-Werke für gleichen Lohn und die Anerkennung ihrer Arbeit. Jetzt bringt ein Musical die Geschichte aus (post)migrantischer Perspektive auf die Bühne. Der künstlerische Leiter Nedim Hazar Bora im Interview.

Interview von Ceyda Nurtsch

In Ihrem Stück „Baha und die wilden 70er“ greifen Sie ein fast vergessenes Kapitel deutscher Geschichte auf. Was war der Hintergrund des Ford-Streiks von 1973?

In den 70ern gab es eine ganze Reihe von sogenannten „wilden“ Streiks, von denen der Kölner Ford-Streik der bekannteste war. In unserem Stück benutzen wir „wild“ auf eine positive Art, etwa wie das englische „wild“ oder „çılgın“ auf Türkisch. Damals aber verstand man darunter „unerlaubte Streiks“. Dieser Terminus stammte noch aus der Nazi-Zeit und diente sogar bis in die 2000er Jahre als Grundlage für die Verurteilung von Streikenden.

Die Grundforderung der Streiks in den 70er Jahren war immer gleich: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Damals verdienten die Gastarbeiter:innen bei Ford weniger Geld als ihre einheimischen Kolleg:innen. Zwei Wochen vor dem Ford-Streik hatten in Pierburg bei Neuss in einer Fabrik migrantische Arbeiterinnen ihre Arbeit niedergelegt. Und sie hatten Erfolg. Ihre Lohnklasse wurde angehoben.

Ein Mann im Hemd mit grauem Haar steht am Fenster.
Autor, Komponist und Schauspieler

Nedim Hazar Bora ist 1960 in Ankara geboren, wuchs in Sydney auf und zog 1980 nach Deutschland. Er studierte Drehbuch an der IFS Köln und Regie in Amsterdam. Zehn Jahre lang produzierte er in der Türkei Dokumentarfilme, 2013 wurde er während der Gezi-Proteste entlassen. 2021 erschien sein Sachbuch „Deutschlandlieder – Almanya Türküleri“, später der gleichnamige Dokumentarfilm.

Viele der Arbeiter:innen bei Ford stammten aus der Türkei, aus Italien und dem ehemaligen Jugoslawien. Viele arbeiteten ganz am Ende vom Fließband in der sogenannten Y-Halle. Die Arbeiter:innen selbst nannten das: Vietnam. Denn diese Arbeit war die Hölle. Gleichzeitig bekamen sie weniger Geld, angeblich, weil sie ungelernt waren.

Viele von ihnen kamen am Ende der Sommerferien zu spät aus dem Urlaub in ihren Heimatländern. So war das eben und meistens wurde das toleriert. Aber in diesem Jahr zeichnete sich eine Wirtschaftskrise ab, und Ford entließ direkt 300 Arbeiter:innen, die zu spät zur Arbeit erschienen waren. Die Arbeit sollte unter den übrigen Beschäftigten aufgeteilt werden, ohne dass neu eingestellt wurde. Da sagten die Leute: „So, jetzt reicht's“.

Der Titelsong des Musicals, das Sie mit Ihrem Sohn, Eko Fresh, und dem Sanat-Ensemble performen, greift den Slogan des Streiks auf: „Eine Mark mehr für alle!“ Warum war diese Forderung so elementar?

Von den rund 30.000 Ford-Beschäftigten besetzten in der Streikwoche rund 6.000 Streikende das Fabrikgelände. Zu Beginn waren auch viele Deutsche dabei, die sich aber im Laufe der Tage immer mehr zurückzogen. Die Forderung „Eine Mark mehr“ war vor allem ein Symbol.

Die Streikenden sagten damit: „Wir sind auch Menschen!“ Es ging um Würde. Man muss sich mal vorstellen: Türkische Arbeitnehmer:innen durften erst 1972 am Betriebsrat teilnehmen. Das an sich ist schon ein Skandal. Mit ihrem Streik sagten die Menschen: „Wir sind gleich. Wir sind auf Augenhöhe!“

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Warum ist dieser Streik so bedeutend für die migrantische Erinnerungskultur? Und inwiefern eignet er sich als Musical-Plot?

Der Streik an sich war schon ein historisches Ereignis. Aber für mich steht an erster Stelle der Kampf dieser Menschen, der Kampf um Gleichberechtigung. Dazu kommt, dass die Geschichtsschreibung über Migrant:innen in Deutschland eher anonym ist. Erst ab 1993, mit Mevlüde Genç in Solingen, wird sie persönlicher. In diesem Fall ist Baha Targün, der charmante und charismatische Streiksprecher, so etwas wie ein migrantischer Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit. 

1973 zogen die Medien über den Streik her. Sie bezeichneten ihn als „Türkenstreik“ oder „Türkenterror“ und berichteten, wie die Streikenden abends zusammen sangen, Geschichten erzählten und tanzten. Das stand im völligen Gegensatz zur Streikkultur, die man in Deutschland kannte. Das wiederum hat uns als Künstler:innen sehr inspiriert.

Ich selbst komme aus der Musik- und Theaterbranche. Diese Geschichte ist spannend und wurde noch nicht erzählt. Wenn wir es nicht tun, tut das vielleicht niemand. In den USA zum Beispiel entstand auf der Basis von „Romeo und Julia“ die Westside-Story, letztendlich auch eine migrantische Geschichte. Warum dann nicht auch hier?

Bei dem Stück wirken auch Mitglieder des Streiks von damals mit. Warum war Ihnen das wichtig?

Drei Zeitzeugen wirken an der Produktion mit. Die Berichte der Streikenden sind Originalberichte aus der damaligen Zeit. Dafür haben wir Freunde und die Familie von Baha Targün kontaktiert. Wenn die Leute noch leben, denke ich, müssen sie auch zu Wort kommen. Sonst würde das Musical ihrer Geschichte nicht gerecht.

Der Streik wurde von der Polizei mit Knüppeln und Schlagringen gewaltsam niedergeschlagen, der Streikanführer Baha Targün wurde schwer verletzt. Welche Spuren hinterließ der Streik? Was hat er erreicht?

Physisch war der Streik vielleicht eine Niederlage, aber psychologisch war er ein Meilenstein. Sowohl für Deutschland als auch für die sogenannten Gastarbeiter:innen. Das war ein Wendepunkt. Deutschland wurde danach zunehmend mehr als Einwanderungsland gesehen. 

Im Moment werden Ford-Werke in Deutschland geschlossen, vermutlich auch das in Köln irgendwann. Doch heute sieht man Menschen mit türkischer Abstammung in Leitungspositionen. Da hat sich viel verändert und dieser Streik 1973 war der Anfang. Also kann man aus heutiger Sicht sagen, der Streik war doch erfolgreich.

Ihr erstes Projekt zum Erbe der Gastarbeiter:innen war „Deutschlandlieder - Almanya Türküleri“ mit musikalischen Schätzen aus sechzig Jahren türkischem Leben in Deutschland. „Baha und die wilden 70er“ erzählt ein weiteres Kapitel der bundesdeutschen Geschichte aus migrantischer Perspektive. Warum ist das wichtig?

Die Umstände sind ja teilweise durchaus bekannt, man kennt ja zum Beispiel das Anwerbeabkommen und man weiß, dass es diesen Ford-Streik gegeben hat. Aber das Wichtige ist, dass da Menschen waren, die das getragen haben. Mich stört, dass das häufig so anonym behandelt wird. Man muss von diesen Menschen erzählen. Und Musical ist ein schönes Mittel, um das emotional zu erleben.

 

„Baha und die wilden 70er“ feiert am 10. Oktober im Comedia-Theater in Köln Premiere. Mehr Informationen zum Stück und zum Sanat-Ensemble gibt es hier.

 

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