Der Kampf um Deutungshoheit über den Islam
Im 21. Jahrhundert scheint jeder zu wissen, was der Islam ist – und gerade deshalb nehmen die Debatten an Zahl und Heftigkeit zu. Wenn Schweizer oder Deutsche über Integrationsfragen oder das Verhältnis des Islams zu Menschenrechten und Demokratie diskutieren, sind sie damit – bewusst oder unbewusst – Teil einer weltumspannenden Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den Islam.
Der interpretatorische Machtkampf findet längst nicht mehr bloß im Herzen der islamischen Welt statt, sondern auch an ihren Rändern und im Westen. Anders gesagt: Was unter "Islam" zu verstehen ist, wird heute nicht nur in der Kairoer Azhar-Moschee bestimmt oder im schiitisch-theologischen Seminar der iranischen Stadt Qom, sondern ebenso in den Bergen Afghanistans, in New Yorker Moscheen oder im Internet. Und natürlich auch in den Kommentarspalten europäischer Zeitungen.
Dieser, wenn man so will, Kampf um den Islam hat durch Globalisierung und Medialisierung ungeahnte Dimensionen angenommen. Hinter ihm steht jedoch letztlich eine tiefe Verunsicherung der Umma, der idealisierten Weltgemeinschaft aller Muslime: Wer soll heute für sie sprechen, wer den Weg weisen? Wer bestimmt, was Muslime glauben?
Fraktionalisierung
Das 21. Jahrhundert wird oft mit einer Renaissance des Religiösen in Verbindung gebracht; auf den Islam bezogen, muss man wohl eher von einer Fraktionalisierung sprechen. Da gibt es die mutigen Reformer, welche die religiösen Quellen nicht buchstabengetreu, sondern dem Geiste nach auslegen wollen.
Die konservativen Graubärte, die für jede Regung, für jede Handlung im Leben detaillierte Anweisungen aus alten Überlieferungen parat haben. Und die Feuerköpfe, die eine aktivistische Auslegung des Islams bevorzugen und mit Vorliebe auch andere Muslime aufs Korn nehmen.
Sie alle haben bestimmte Vorstellungen davon, was ein Muslim zu tun, was er zu denken und vor allem was er abzulehnen hat. Am einen Ende des Spektrums steht die weitgehende Auflösung islamspezifischer Attribute in eine allgemeine Metaphysik, am anderen Ende eine rigide und intolerante Unterscheidung in Freund und Feind.
Die Folgen betreffen zuvorderst konfessionelle Minderheiten und Abtrünnige. Denn der jeweils "wahre Islam" wird vor allem an den Rändern des Glaubens verteidigt. Die Anschläge auf zwei Moscheen der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Lahore Ende Mai legten ein blutiges Zeugnis davon ab, wie prekär der Status von Gruppen ist, deren Mitgliedschaft in der Umma von anderen bestritten wird.
Dass der 1889 gegründeten Ahmadiyya die Zugehörigkeit zum Islam 1974 sogar vonseiten des pakistanischen Staats offiziell abgesprochen wurde, macht ihre Mitglieder noch verwundbarer.
Takfir-Kriege
Inzwischen gibt es sogar eine eigene Bezeichnung für Gruppen, die das Muslimsein anderer in Zweifel ziehen: Takfiris, vom arabischen "takfir", wörtlich: "zum Ungläubigen machen". Die Praxis reicht jedoch längst über militante Minderheiten hinaus.
Auch Gelehrte der altehrwürdigen Azhar-Moschee in Kairo haben schon mit Radikalen gemeinsame Sache gemacht, wenn es darum ging, unbequeme Denker in die Schranken zu weisen: den 1992 ermordeten Publizisten Farag Foda etwa oder den kürzlich verstorbenen Literaturwissenschafter Nasr Abu Zaid, der de iure zum Nichtmuslim erklärt wurde. Mit ihren Ansichten über den Islam oder den Koran hatten sie die Deutungshoheit konservativer Gelehrter in Ägypten herausgefordert und wurden daraufhin zu Apostaten erklärt.
Dass unter einzelnen radikalen Splittergruppen mittlerweile regelrechte Takfir-Kriege entbrannt sind, in denen eine Fraktion die andere via Internet des Glaubensabfalls beschuldigt, ist nur eine skurrile Fußnote dieser insgesamt bedrohlichen Entwicklung. Denn solange es Fundamentalisten immer wieder gelingt, sich mit exklusiven Glaubensauslegungen Gehör zu verschaffen, ohne dass ihnen entschlossen entgegengetreten wird, ist der Zusammenhalt unter Muslimen unterschiedlicher Konfessionen gefährdet.
Einflussreiche Religionsgelehrte, die den Mainstream des Islams vertreten könnten, gelten jedoch häufig lediglich als Sprachrohre der jeweiligen Machthaber oder sind anderweitig in politische Zusammenhänge verstrickt.
Die dadurch entstandene Lücke haben entschlossen andere besetzt: "Laienislamisten" wie Usama bin Laden und seine Qaida-Terroristen auf der einen, TV-Gelehrte wie Yussuf al-Qaradawi auf der anderen Seite. Dass ein grantiger 84-Jähriger mit seinen Auftritten in einer arabischen Fernsehshow maßgeblich über die großen und kleinen Glaubensfragen von Millionen Muslimen mitbestimmt, sagt vielleicht mehr über den Zustand des Islams in der heutigen Welt aus als alles andere. Die Umma sucht nach spiritueller Führung und findet sie im Fernsehen.
Auch der Westen lässt sich aus dieser Gleichung jedoch nicht mehr herausdividieren. Und zwar nicht nur aufgrund der Präsenz muslimischer Diaspora oder weil Qaradawi längst ein "Global Mufti" ist, wie es im Titel eines jüngst erschienenen Aufsatzbandes über ihn heißt.
Der Einfluss des Westens reicht tiefer – und weiter zurück: Schon die großen religiösen Reformer der "Nahda", der arabischen Renaissance im 19. Jahrhundert, waren von europäischen Vorstellungen von Staat, Religion und Gesellschaft beeinflusst.
Viele von ihnen entwickelten daraufhin eine tiefe Abneigung gegen mystische und volksreligiöse Praktiken, die ihrem Willen zum Rationalismus zuwiderliefen. Der Ägypter Muhammad Abduh ließ die Schriften des mittelalterlichen Sufi-Meisters Ibn al-Arabi verbieten, sein Schüler Raschid Rida wandte sich energisch gegen die jahrmarktähnlichen Maulid-Feiern.
Reduktion auf Extreme
Spätestens seit dieser Zeit ist Europa ein Faktor innerhalb der geistesgeschichtlichen Entwicklungen im Islam – ohne dass dies den meisten Europäern bewusst wäre. Selbst für die großen Konfliktthemen der Gegenwart, etwa die Rushdie-Affäre oder den Karikaturenstreit gilt: Sie verändern den Islam mindestens ebenso sehr, wie sie Europa verändern. Der Blick des Westens ist heute in islamischen Diskursen stets präsent, selbst wenn dies widerstrebend geschieht.
Der mauretanische Historiker Mohamed al-Moctar hat dies am Beispiel der Diskussion um die Vollverschleierung treffend beschrieben. Die französische Anti-Burka-Gesetzgebung verändere die Debattenlage in der islamischen Welt: "Sie führt dazu, dass auch Muslime, die eigentlich gar nichts vom Niqab halten, sich mit den Trägerinnen solidarisieren, weil sie solche Gesetze nur als einen weiteren Beweis für den Hass des Westens auf den Islam auffassen."
Dieser Umgang mit wahren oder vermeintlichen westlichen Zuschreibungen funktioniert nach einer komplizierten Mechanik und ist keineswegs immer vorhersehbar. Das Ringen um die Meinungsmacht im Islam hat dadurch jedoch eine neue Dimension hinzugewonnen.
Freilich kranken sowohl die islamische wie die westliche Debatte am selben Problem: Aus dem breiten Spektrum möglicher Einstellungen werden zumeist lediglich die Extrempositionen gefiltert, der Islam wird auf klare Gegensätze reduziert. So bemerkte der Schweizer Islamdenker Tariq Ramadan einmal, Leute wie er, die sich als Reformer betrachteten, würden im islamischen Diskurs häufig als europäische Agenten oder Apostaten abqualifiziert. Gleichzeitig würden sie im Westen mit dem Etikett "fundamentalistisch" belegt.
Christian H. Meier
© Neue Zürcher Zeitung 2011
Der Islamwissenschafter Christian H. Meier ist Mitherausgeber der Orient-Zeitschrift "Zenith".
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de