''Das Mubarak-Regime ist noch intakt''
Herr Aswani, waren Sie am 30. Juni bei den Massenprotesten dabei, die zum Putsch gegen Mohammed Mursi führten?
Alaa al-Aswani: Ich glaube, Sie haben sich diese Frage ausgedacht, um das Wort Putsch zu benutzen.
Stimmt.
Al-Aswani: Das war kein Militärputsch, es war eine neue Welle der Revolution. Der wahre Putsch fand letzten November statt...
…als Mursi seine Entscheidungen per Verfassungserklärung der gerichtlichen Kontrolle entzog?
Al-Aswani: Genau. Wenn ein Regierungschef in Europa, wenn Merkel zum Beispiel ihre Entscheidungen über das Gesetz stellen würde, bliebe sie nicht einen Tag im Amt. Und niemand würde es wagen, über Demokratie zu sprechen und sie als gewählte Kanzlerin zu verteidigen.
Ist die Diskussion über das Wort Putsch nicht ein rein semantischer Streit? Per Definition war es einer: Das Militär hat die Regierung unter Androhung von Gewalt abgesetzt, die Verfassung aufgehoben und führende Politiker verhaftet. Können wir nicht zugeben, dass es ein Putsch war, aber vielleicht einer, der das Land voranbringt?
Al-Aswani: Nein, Sie übersehen die Details. In Demokratien hat das Parlament das Recht, vorgezogene Präsidentschaftswahlen einzuberufen. Das Parlament repräsentiert den Volkswillen.
Wenn es kein Parlament gibt – und das ist der Fall in Ägypten – geht die Autorität zurück an das Volk. Wenn man bedenkt, dass 33 Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind und Neuwahlen gefordert haben und dass Mursi von nur 13 Millionen Ägyptern gewählt worden ist, dann war seine Entmachtung absolut demokratisch.
Gleich nach den Protesten war von Millionen von Teilnehmern die Rede. Sie sprechen von 33 Millionen, was mehr als ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung wäre. Woher haben Sie diese Zahl?
Al-Aswani: Von ägyptischen und internationalen Nachrichtenagenturen. Natürlich können wir nicht jeden einzelnen zählen, aber für mich sind das verlässliche Schätzungen. CNN schätzte, dass bereits an der Januarrevolution 2011 gegen Husni Mubarak zwischen 18 und 20 Millionen Ägypter teilnahmen. Jeder konnte sehen, dass die Proteste vom 30. Juni 2013 noch größer waren.
Statt auf die Muslimbrüder setzen viele Ägypter nun ihre Hoffnung auf Armeechef Abdel Fatah al-Sisi. Ist das nicht paradox? Als das Militär nach dem Sturz Mubaraks 2011 die Macht übernahm, bekleckerte es sich nicht gerade mit Ruhm.
Al-Aswani: Ich war einer der schärfsten Kritiker des Oberster Militärrates. Aber nennen Sie mir, abgesehen von al-Sisis Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Land, einen Grund, warum er sich in die Politik einmischen sollte.
Die Armee hat immer Privilegien genossen und der Militärrat wollte sie nach der Revolution verteidigen. Doch nun hat die Muslimbruderschaft in ihrer Verfassung der Armee dreimal soviel zugestanden, wie sie haben wollte. Die Armee kann sich also nicht beschweren.
Außerdem unterschreiben wir nichts für die Ewigkeit. Wenn al-Sisi politische Absichten zeigt, dann werden Sie über meine Meinung erstaunt sein! Die Armee darf sich nicht in die Politik einmischen. Wenn aber eine faschistische Gruppe mit bewaffneten Militanten nach und nach den Staat kontrolliert, ist die Armee die einzige Macht, die dem entgegenwirken kann.
Sie sprechen von Militanten. Müssen wir nicht unterscheiden zwischen der Organisation der Muslimbruderschaft und den Extremisten, die die Anschläge verüben?
Al-Aswani: Mich interessiert nicht, ob sie unterschiedlich organisiert sind. Es ist dieselbe Gruppe.
Sie meinen dieselbe Ideologie?
Al-Aswani: Ich spreche vom politischen Islam. Er wird immer aggressiver, denn seine Anhänger verlieren nicht nur die Macht; die Idee des politischen Islams selbst bricht in sich zusammen. Das ist sehr interessant: 1928, als die Muslimbruderschaft gegründet wurde, war es Ägypten, das der Welt die Idee des politischen Islams brachte. 2013 ist es Ägypten, das mit ihr endgültig abschließt.
Davon müssen Sie aber noch Hunderttausende überzeugen, die auf den Straßen für Mursi und die Muslimbrüder protestieren.
Al-Aswani: Ich muss sie nicht überzeugen. Wer zu den Waffen greift, kommt ins Gefängnis. Wer nicht zu den Waffen greift, kann die seltsamsten Überzeugungen haben und dennoch eine politische Partei gründen. Das ist Demokratie.
Also war das vergangene Jahr eine Lektion für Ägypten?
Al-Aswani: Ja, eine sehr lehrreiche sogar. Ich hatte anfangs dazu aufgerufen, Herrn Mursi eine Chance zu geben. Obwohl ich gegen die Brüder war, habe ich Mursi als gewählten Präsidenten angesehen. Nun kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass er seine Legitimität mit den November-Dekreten verspielt hat. Seitdem konnte man nicht mehr von Demokratie sprechen.
Lassen Sie mich auf meine Eingangsfrage zurückkommen: Waren Sie bei den Massenprotesten gegen Mursi dabei?
Al-Aswani: Natürlich. Ich kann nicht zu Protesten aufrufen, ohne selbst auf die Straße zu gehen. Die Demonstranten waren diesmal andere. Es gab eine kleine Gruppe echter Revolutionäre und die Feloul, die Überbleibsel des Mubarak-Regimes. Letztere waren aber sehr wenige. Die größte Gruppe waren Menschen, die wahrscheinlich zum ersten Mal demonstrierten. Deshalb haben die Proteste solche Ausmaße erreicht. Die Leute waren nicht notwendigerweise für die Revolution, sondern hatten Angst vor den Muslimbrüdern.
Vor welchen Herausforderungen steht die Revolution nun?
Al-Aswani: Schon unter Mubarak habe ich argumentiert, dass Ägypten drei Hürden überwinden muss. Die erste war Mubarak selbst. Die zweite ist die Militärherrschaft und die dritte der politische Islam. Jetzt sind wir mit der dritten fertig.
Aber es besteht zum einen die Gefahr, dass das Militär wieder an die Macht kommt – eine Gefahr, die, wie ich erklärt habe, nicht sehr groß ist. Zum anderen droht das alte Regime mit einer neuerlichen Machtübernahme. Und diese Gefahr ist groß. Das Mubarak-Regime ist noch intakt, nur ohne seinen Kopf.
Sprechen Sie von der "Nationaldemokratischen Partei" Mubaraks?
Al-Aswani: Ja, die Nationaldemokratischen Partei ist noch existent und kann wiederkommen, indem sie die armen Wähler besticht, so wie es auch die Muslimbrüder gemacht haben. Es gibt noch den alten Sicherheitsstaat und viele der Journalisten, die gegen die Muslimbrüder gekämpft haben – was sehr hilfreich war – gehören dem Mubarak-Regime an.
Sie unterstützen Ahmed Shafik, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Präsidentschaftskandidaten von 2012. Auch ihn gibt es noch. Zweifellos wird er eines Tages wieder auf der Bildfläche erscheinen.
Mubarak kam auch aus dem Militär. Sprechen Sie von unterschiedlichen Strukturen?
Al-Aswani: Das alte Regime verfügt über Strukturen außerhalb beziehungsweise parallel zum Militär. Mubaraks Leute haben Geld, TV-Kanäle, Wähler, Unterstützer in staatlichen Institutionen, alles. Viele der Symbole des alten Regimes sind nun wieder im Fernsehen. Wir sind noch nicht fertig, aber wie gesagt: Wir haben die drei Hürden genommen: Mubarak selbst, die Militärherrschaft und den politischen Islam. Deshalb bin ich sehr optimistisch.
Interview: Jannis Hagmann
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de