"All dies wäre eigentlich Heimat..."
Youssef Rakha, Sie schreiben zurzeit an einem neuen Roman und tun dies nicht in Ihrer Muttersprache Arabisch, sondern auf Englisch. Aus welchem Grund?
Youssef Rakha: Ich hatte das Bedürfnis nach Distanz und Veränderung. Ich wollte weg kommen vom Gewohnten mit all seinen Implikationen, Obertönen und Untertönen. Dabei hilft mir das Englische, es ist neutral und hat für mich nicht dasselbe Gewicht, nicht die dieselbe Last wie das Arabische. Ich brauche Distanz zu all den Dingen, die in Ägypten in den letzten fünf Jahren seit der Revolution geschehen sind.
Was bringt Ihnen die Distanz zur eigenen Erfahrungswelt beim Schreiben?
Rakha: Es gibt mir mehr Freiheit. Wenn ich einen Schritt zurücktrete von allem, was mich im Alltag bindet und prägt, gewinne ich neue Einsichten. Interessanterweise hat die englische Sprache dazu geführt, dass ich schließlich als zentrale Figur für den Roman eine Frau gefunden habe.
Wie eignen Sie sich als Mann eine weibliche Perspektive an?
Rakha: Ich denke an meine Mutter und an andere Frauen, die mir nahe stehen oder standen. Als Schriftsteller sollte man diese Flexibilität haben, oder kann es zumindest versuchen. Die Erzählerstimme ist allerdings diejenige des Sohnes der Frau. Ihre Geschichte wird vom Sohn erzählt.
Sie leben in Ägypten, sind aber auch mit Europa sehr vertraut, schreiben sowohl auf Arabisch wie auch auf Englisch. Was bedeutet Ihnen dieses "Switchen"?
Rakha: Ich versuche aus zwei gegensätzlichen oder unterschiedlichen Welten eine dritte zu schaffen, die Aspekte von beiden kombiniert. Wir alle leben doch die meiste Zeit in unserer eigenen Blase, ich etwa in meiner ägyptischen Herkunft. Diese Blase aufzubrechen und mich draußen umzusehen, erscheint mir sinnvoll. Meine Psyche ist sehr ägyptisch. Aber mein Denken überhaupt nicht, das ist europäisch geprägt. Flexibilität ist wichtig, um einen offenen Geist zu behalten.
Fühlen Sie sich zerrissen zwischen der westlichen und der östlichen Welt?
Rakha: Ich fühle mich nicht zerrissen, aber heimatlos, extrem heimatlos und gestrandet in Ägypten, wo ich nicht die persönlichen und politischen Rechte habe, die ich haben sollte, wo ich mich emotional nicht ausdrücken kann wie ich will, wo ich am freien Ausleben meiner zwischenmenschlichen Beziehungen gehindert werde und wo mir ein stimulierender intellektueller Austausch fehlt. All dies zusammen genommen, wäre eigentlich Heimat. Mir fehlt immer ein wesentlicher Teil dieser Heimat. Doch ich erfahre das nicht als eine dramatische Spannung oder als gewalttätig, es ist eher ein Gefühl von Traurigkeit.
Suchen Sie mit dem Englischen als Schreibsprache auch ein neues Publikum?
Rakha: Ich suche Leserinnen und Leser, mit denen ich offen und ehrlich sein kann, ohne mir über die Konsequenzen, auch die politischen, Sorgen machen zu müssen. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich habe letzthin gemerkt, dass Kairo für mich vielleicht nicht die Stadt ist, für die ich schreibe, sondern über die ich schreibe.
Bereits in Ihrem ersten Roman "The Book of the Sultan's Seal" spielt Kairo eine zentrale Rolle. Was für ein Kairo wollen Sie uns zeigen?
Rakha: Wenn ich an ein westliches Publikum denke, dann möchte ich erzählen, dass Kairo eine sehr gegenwärtige, zeitgenössische, komplexe und äußerst interessante Stadt ist, mit allen ihren Widersprüchen. Ich möchte die westlichen Bilder der Welt, aus der ich komme, entmystifizieren oder ihnen widersprechen. Um zu zeigen, dass diese meine Welt genau so menschlich und komplex geschichtet ist wie alle anderen Welten auch. Vielleicht sind all die Klischees, die man dauernd in den Nachrichten hört, auch wahr, aber nicht auf diese simple Weise, sondern auf eine menschliche Weise; sie sind nicht die ganze Wahrheit. Literatur kann diese Tiefe spürbar machen, die hinter allem steht. Sie verändert den Blick, man sieht anderes und auf andere Weise.
Während Ägypten in den letzten fünfzehn Jahren einen wahren Leseboom mit zahlreichen Bestsellern erlebt, suchen Sie neue Leser im Ausland. Wie kommt das?
Rakha: Die Mehrheit des ägyptischen Lesepublikums ist eigentlich ein Fernsehpublikum. Diese Leute lesen Bücher wie Variationen des Fernsehens. Ich glaube, das Interesse für echte Literatur ist sehr gering in Ägypten. Das macht mich klaustrophobisch. Die Bücher, die sich in Ägypten wirklich gut verkaufen, also die Bestseller, sind weniger Literatur als vielmehr potenzielle Fernsehserien, seien es nun die Bücher von Ahmed Mourad oder Alaa al-Aswani. Ich meine das nicht unbedingt als Beleidigung. So ist es halt. Es sieht zwar so aus, als würden die Leute viele Bücher kaufen, aber sie kaufen eben nicht Literatur.
Sie haben jüngst auf dem Internationalen Literaturfestival in Leukerbad in der Schweiz einen Essay über die Facetten des arabischen Pornos gelesen, den Sie auf Englisch geschrieben haben. Ist es für Sie sicherer, über ein Thema wie Sex auf Englisch zu schreiben?
Rakha: Nein, überhaupt nicht. Aber es ist einfacher. Beim Thema Sexualität gibt es im Englischen so viele Vorstellungen und Begriffe, die im Arabischen gar nicht existieren.
Aber der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji wurde wegen eines sexuell expliziten Romans verurteilt und sitzt jetzt für zwei Jahre im Gefängnis.
Rakha: Das ist schrecklich. Aber bei dieser Geschichte geht es nicht so sehr um Sex. Er wurde wegen Verstoß gegen die öffentliche Moral verurteilt. Dieses Gesetz schüchtert die Menschen ein. Das kann jedem passieren, der sich mitten auf der Straße auszieht. Naji wurde verurteilt, weil ein Auszug des Romans in einer staatlichen Literaturzeitschrift veröffentlicht wurde. Der Roman selbst wird in Ägypten nach wie vor verkauft. Ahmed Naji ist nicht im Gefängnis, weil er über Sex geschrieben hat, sondern weil der Text in einer staatlichen Zeitung erschienen ist.
Hat die Zensur für Literatur in den letzten fünf Jahren zugenommen?
Rakha: Nein, im Gegenteil, wenn sich für die Literatur etwas verändert hat, dann ist es eher offener geworden. Ganz anders auf der politischen Ebene. Meine Einstellung zur Politik ist heute wieder die gleiche wie vor 2011. Voller Verzweiflung und Abscheu. Das ist wohl das schlimmste, was passieren konnte. Wenn es irgendwo im Leben Hoffnung gibt, dann sicher nicht in der Politik.
Wo dann?
Rakha: In der Literatur, in Kultur und Kunst. In mancher Hinsicht ist die Situation noch schlimmer als vor 2011, etwa was die Wirtschaft betrifft oder die Menschenrechte. Aber das Leben ist nicht unmöglich. Wir haben Elektrizität und ein gewisses Mass an Sicherheit, was mehr ist, als wir vorher hatten.
Wenn Sie an die Entwicklung der letzten fünf Jahre denken, was erwarten Sie von der Zukunft? Werden Sie in Ägypten bleiben?
Rakha: Es ist die nächstliegende Option. Ich habe keinen Grund zu gehen. Zumindest nicht jetzt. Die Zukunft? Ich weiß es wirklich nicht. Mehr vom gleichen in diesem Teufelskreis. Wir brauchen vor allem Säkularismus. Solange sich innHinblick auf die gesellschaftlichen Werte nichts Fundamentales ändert, wird sich auch politisch nichts ändern.
Hat die Revolution von 2011, die so viel Hoffnung genährt hat, nichts verändert?
Rakha: Ich glaube, seit der Revolution haben junge Leute tatsächlich mehr Mut und Hoffnung als zuvor. Es gibt zwar auch mehr Verzweiflung, aber gleichzeitig auch mehr Wille und Wagnis, eine Bereitschaft, für die eigenen Ideale etwas zu riskieren. Ich sehe die Revolution von 2011 heute aus der Distanz als den Anfang einer viel langsameren, gesellschaftlichen Bewegung. Daran glaube ich immer noch. Aber auf der politischen Ebene ist die Revolution nicht nur misslungen, sondern ein einziges Desaster.
Das Interview führte Susanne Schanda.
© Qantara.de 2016
Youssef Rakha wurde 1976 in Kairo geboren und hat in Großbritannien Englische Literatur und Philosophie studiert. Sein erster Roman "Kitab al-Tughra" erschien 2011 (Englisch 2015), der zweite "Al-Tamasih" ein Jahr darauf (Englisch 2014). Er arbeitet in Kairo bei der englischsprachigen ägyptischen Wochenzeitung "Al-Ahram Weekly" und schreibt auf Arabisch und auf Englisch.