Ignorierter europäischer Islam
Professor Roy, Marokko, Algerien, Tunesien – in welchem dieser drei Maghrebstaaten ist die politische Lage Ihrer Meinung nach momentan am komplexesten?
Olivier Roy: Ehrlich gesagt in allen dreien. Insbesondere in Marokko, obwohl die politische Lage dort stabiler zu sein scheint als in den anderen Ländern. Algerien bereitet sich auf die Nachfolge von Präsident Bouteflika vor, was in der Tat so etwas wie ein "dauerhafter" Übergang ist. Die Prozesse der politischen Verwaltung sind in Algerien nicht öffentlich, sondern finden im Hintergrund statt. Aber trotzdem ist die algerische Gesellschaft sehr lebendig. Sowohl nationale als auch internationale politische Themen werden dort leidenschaftlich diskutiert.
In Tunesien war der demokratische Wandel ein Erfolg. Trotz aller möglichen Kritik gegen die politische Führung des Landes haben sie den Umbruch dort geschafft, auch wenn die Extremisten – sowohl auf säkularer als auch auf radikalislamistischer Seite – unzufrieden sind und sich von der Politik ausgeschlossen fühlen. Tunesiens Problem ist wirtschaftlicher Natur und daher nicht politisch. Außerdem trägt der dschihadistische Radikalismus dazu bei, der eine bösartige Minderheit umfasst und von diesen sozialökonomischen Problemen noch verstärkt wird.
Wenn man diejenigen berücksichtigt, die sich "Da'ish" (das arabische Akronym für "Ad-Dawla al-Islāmiyya fī al-ʿIrāq wa l-Shām", den "Islamischen Staat in Irak und in Syrien") anschließen, ist diese Minderheit jedoch von entscheidender Bedeutung, insbesondere angesichts dessen, dass Tunesien nur etwa zehn Millionen Einwohner hat.
Roy: Nun, es gibt zwei Aspekte. Es ist wahr, dass Tunesien an zweiter Stelle nach Saudi-Arabien die meisten Kämpfer ins Ausland exportiert. Diese Menschen kommen größtenteils aus dem Süden und den verlassenen Randgebieten. Ich würde allerdings sagen, dass dieses Problem Tunesien und die westlichen Länder gemeinsam betrifft. Die Eltern dieser Jugendlichen, die tatsächlich sehr jung und manchmal noch Kinder sind, verstehen die Entscheidungen ihrer Sprösslinge nicht und lehnen sie ab. Also ist es ebenso wie in Europa nicht die Gesamtbevölkerung, die radikalisiert ist, sondern ein kleiner Teil der jüngeren Generation. Ich würde daher sagen, dies ist ein Ergebnis von Tunesiens Europäisierung und nicht umgekehrt.
Marokko ist Ihrer Analyse zufolge gegenwärtig das stabilste Land im Maghreb...
Roy: Ja, aufgrund des monarchischen Gefüges, das offenbar eine mäßigende Wirkung hat, besteht dort politische Kontinuität. Aber die Gesellschaft befindet sich in dauerndem Wandel und Entwicklungsprozess. Zuerst hat sie sich von einer landwirtschaftlichen Gesellschaft in eine städtische entwickelt, und darüber hinaus waren die meisten Bürger früher Analphabeten und sind jetzt auf jeden Fall besser ausgebildet. Und dann ist da der König, der immer seltener öffentlich in Erscheinung tritt, so dass seine engsten Berater wirklich regieren.
Welche Beziehungen unterhalten momentan die Maghrebstaaten zu Europa?
Roy: Die beiden Räume wachsen immer mehr zusammen. Millionen von Menschen aus dem Maghreb leben derzeit in Europa, von denen Hunderttausende die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. In den französischen und italienischen Parlamenten sitzen tunesische Abgeordnete. Ich würde sagen, wir befinden uns in einer Nachmigrationssituation. Heute wollen nicht mehr Hunderttausende Bürger aus dem Maghreb nach Europa kommen, sondern die Menschen möchten sich frei in beide Richtungen bewegen können. Und immer mehr junge Immigranten der zweiten Generation kehren nach Hause zurück. Die Menschen flüchten nicht mehr vor dem Krieg, sondern suchen nach den besten ökonomischen Perspektiven. Darüber hinaus sind viele von ihnen zweisprachig; und auch dies ist ein Zeichen gegenseitiger Durchdringung. Ich habe den Eindruck, Europas Politiker haben diese Veränderungen noch gar nicht wirklich verstanden und vertreten weiterhin eine sehr restriktive Visapolitik, die letztlich in die Illegalität führt.
Wie gestaltet sich denn das Verhältnis der Maghrebstaaten untereinander?
Roy: Zwischen diesen Ländern herrscht keinerlei Solidarität, es gibt keine Zusammenarbeit. Zwischen Marokko und Algerien beispielsweise herrscht immer noch Rivalität. Europa kümmert sich nicht um das Problem. Und dann wäre da noch der Faktor Islam, den man auch ausblendet: Sowohl Marokko als auch Algerien glauben, der Islam Europas solle dem Islam ihres jeweiligen Landes entsprechen. Und so wird der Dekan der Pariser Moschee von Algier aus bestimmt, während Marokko Imame marokkanischen Ursprungs ausbildet. Es ist ein Wettbewerb. Dabei wird ignoriert, dass sich gegenwärtig ein neuer europäischer Islam etabliert, der anders gestaltet ist als der ursprüngliche Islam aus den Herkunftsländern. Und dieser neue Islam wird von den maghrebinischen Behörden äußerst skeptisch beäugt, da er von den säkularen Ideen der westlichen Gesellschaften beeinflusst ist. Aber er ist ja immer noch der Islam.
Glauben Sie, dass vor dem Hintergrund des Syrienkrieges die gegenwärtigen russischen und französischen Interventionen einen negativen Einfluss auf die Maghrebstaaten haben, respektive auf Libyen?
Roy: Libyen folgt einer nahöstlichen Logik, daher lautet meine Antwort: wahrscheinlich ja. Die anderen Staaten werden wohl keine gravierenden Auswirkungen spüren. Das Problem ist die Schnittstelle, also Tunesien, das bis heute stark unter der Krise in Libyen leidet. Daher würde ich von einer "Verbindungsstörung" zwischen dem Maghreb und dem Nahen Osten sprechen. Beispielsweise konnte man vor dem "Arabischen Frühling" in den Ländern des Maghreb große pro-palästinensische Proteste erleben. Ebenso in Kairo. Es gab immer noch ein vages panarabisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Das geschieht heute nicht mehr. Abgesehen davon: Mit wem sollen sich junge Marokkaner oder Algerier heute identifizieren? Mit den Kurden? Mit den Schiiten? Mit Assad?
Welche Rolle spielt die Führung in Ankara in Hinblick auf den Syrienkonflikt und die Kurden?
Roy: Für die Amerikaner und die Europäer ist der Feind Nummer Eins der Da'ish. Die Unterstützung für die Türkei, die NATO-Mitglied ist, wird nicht im Namen der Kurden abgelehnt werden. Oder, lassen Sie uns sagen, es wird eine differenzierte Art von Hilfe geben. Kurden von außerhalb der Türkei werden Unterstützung bekommen, aber nicht diejenigen im Land. Die Lage ist derzeit äußerst komplex und diffizil. Dass die Türkei unter den aktuellen Umständen Mitglied der EU wird, steht außer Frage. Daher denke ich, es muss zumindest eine bilaterale türkisch-europäische Zusammenarbeit geben, die in Bezug auf gemeinsames Grenzmanagement, Einwanderungspolitik im Schulterschluss mit dem UNHCR mehr Verantwortung zeigt als zuvor. Dies ist schwierig, da Ankara den Vereinten Nationen zurückhaltend gegenübersteht.
Das Interview führte Federica Zoja.
© ResetDoc 2015
Olivier Roy ist französischer Politik- und Islamwissenschaftler, der als politischer Berater, Diplomat und UN-Gesandter wirkte und unter anderem 1994 die OSZE-Mission in Tadschikistan leitete. Gegenwärtig ist er Professor am Robert Schuman Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts in Fiesole, Italien.
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff