''Mursi muss im Interesse aller Ägypter handeln''
Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi hat einige seiner Versprechen eingelöst: Er begnadigte alle Demonstranten, die während der Revolution gegen den gestürzten Machthaber Mubarak verhaftet wurden. Zuvor hat er eine Frau und einen Kopten in sein Beraterteam berufen. Sind Sie mit seinen ersten Amtshandlungen zufrieden?
Emad Gad: Nein. Für mich sind diese Maßnahmen auf keinen Fall ein gutes Zeichen, weil die Muslimbrüder sich mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens lediglich als Dekoration schmücken wollen. Doch diesen Personen wird kein Mitspracherecht bei wichtigen politischen Entscheidungen eingeräumt. Mursi hat in der zweiten Wahlrunde versprochen, einen koptischen Vizepräsidenten zu ernennen. Doch nach der Wahl wollte er davon nichts mehr wissen. Seine Leute haben ihn darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung bedeutet, dass ein Kopte das Land regieren könnte, wenn ihm etwas zustoßen sollte.
Was erwarten die Kopten von Mursi?
Gad: Die Kopten verlangen eine Bürgergesellschaft, einen zivilen Staat, in dem sie volle Bürgerrechte – und natürlich auch entsprechende Pflichten haben. Wir wollen keine Privilegierung, sondern die gleichen Rechte und Pflichten.
In Ägypten gibt es ganze Bereiche des Staates, wie den Präsidialapparat, die Staatssicherheit, die Geheimdienste, wo die Kopten keinen Zugang haben. Deshalb haben sich viele von ihnen als Unternehmer betätigt und sind in die Privatwirtschaft gegangen. Von den Institutionen des Staates werden sie systematisch ausgegrenzt. Folgerichtig erwarten sie nicht viel vom Staat.
Paradoxerweise wirft man den Kopten nun vor, dass sie ein Drittel der Wirtschaft dominieren. Hinzu kommt, dass der koptische Glaube in religiösen privaten Medien gezielt diffamiert wird. Die staatlichen Organe unternehmen leider nichts dagegen.
Haben Sie ein Problem damit, dass Mohammed Mursi ein Muslimbruder ist?
Gad: Ich habe eigentlich kein Problem damit, dass ein Muslimbruder Präsident ist. Das Problem mit Mursi ist jedoch, dass sein Handeln im Moment ausschließlich den Interessen nur einer Gruppe, nämlich der Muslimbruderschaft, dient und nicht den Interessen aller Ägypter. So wird jetzt in der Verfassungskommission darüber gestritten, ob der ägyptische Staat die koptische Kirche mitfinanzieren soll. Dabei ist das bisher gar nicht der Fall, wohingegen der ägyptische Staat die Azhar-Universität und andere islamische Stiftungen finanziert.
Wie kam es eigentlich dazu, dass die Muslimbrüder eine allzu große Machtfülle nach Mubaraks Abgang anhäufen konnten?
Gad: Das hat viel mit der Politik des Obersten Militärrats zu tun. Die Generäle haben zugelassen, dass religiöse Parteien überhaupt erst entstehen konnten. Das war in den ägyptischen Wahlgesetzen eigentlich gar nicht vorgesehen. Ausschließlich religiöse Parteien sind in Ägypten nicht zugelassen. Außerdem haben die Militärs erlaubt, dass Moscheen und Stiftungen für politische Zwecke missbraucht werden. Und jetzt hat Mursi entschieden, dass alle Mitglieder des Militärrats automatisch Mitglieder des nächsten Parlaments werden, quasi als "Dankeschön" an sie – auf Lebenszeit!
Die Entmachtung des Militärs wurde aber von der liberalen Opposition und den revolutionären Jugendgruppen begrüßt…
Gad: Mursi hat die Armee nicht entmachtet. Vielmehr handelt es sich um einen großen Deal, sich die Macht zu teilen: Der Militärrat gibt die Schlüsselposition an die Muslimbrüder und als Gegenleistung dürfen die Militärs lebenslange Immunität genießen.
Was unternehmen die liberalen und zivilen Parteien gegen die Dominanz der Islamisten im postrevolutionären Ägypten? Immerhin stellen sie theoretisch die Mehrheit im Lande.
Gad: Wir arbeiten im Rahmen der zivilen Parteien daran, ein starkes Oppositionsbündnis gegen die Dominanz der Muslimbrüder zu bilden. Wir sind gemeinsam der Auffassung, dass Mursi nur Präsident werden konnte, weil der Militärrat den Ex-Regierungschef Ahmad Schafik gegen ihn aufgebaut hat. Schafik war aber völlig diskreditiert.
Wir hätten gerne einen anderen Kandidaten unterstützt, z.B. den volksnahen und populären Hamdeen Sabahi. Aber die Fixierung des Militärrats auf Schafik hat letztendlich dafür gesorgt, dass Mursi Präsident werden konnte.
Welche Entwicklungsszenarien sehen Sie für Ägypten in naher Zukunft?
Gad: Ägypten verwandelt sich unter der Führung der Islamisten unaufhaltsam zu einem Gottesstaat. Aus diesem Grund sehe ich zwei Entwicklungsszenarien: Im besten Fall gelingt es allen nicht-religiösen, zivilen und liberalen Kräften, einen einzigen Oppositionsblock bei den nächsten Parlamentswahlen, die in einem halben Jahr stattfinden sollten, zu formieren. Auf diese Weise würde die neue Parlamentsmehrheit die Macht des Präsidenten beschneiden bzw. ausgleichen können. Denn wir brauchen dringend einen institutionellen Rahmen für die Machtteilung und –verteilung.
Wir stehen deswegen im Gespräch mit vielen Parteien. Vor allem wollen wir die neue Verfassungspartei ("Hizb el-Dostour") des Friedensnobelpreisträgers Mohamed ElBaradei in unserer Koalition integrieren. Und wir würden gerne auch die dritte "Volksströmung", die getragen wird von Hamdeen Sabahi und seiner postnasseristischen "Karama"-Partei, in unsere erweiterte Koalition aufnehmen.
Die "Karama"-Partei ist für die zivilen Kräfte in Ägypten sehr wichtig, weil sie auf dem Land präsent ist und viele treue und sozial engagierte Anhänger hat. Zudem kennt sie die Sprache und die Lebenswelten der einfachen Ägypter. Mit diesem zivilen Parteien-Block würden wir ein starkes Gegengewicht zu den Islamisten bilden.
Woran könnte dieses Vorhaben scheitern?
Gad: Zwei große Gefahren sehe ich für diesen Vereinigungsprozess: erstens die große Selbstüberschätzung der liberal-zivilen Parteien hierzulande und den Narzissmus ihrer Protagonisten. Sowohl Sabahi als auch ElBaradei beanspruchen die Führung der neuen Oppositionsbewegung. Als zweite Gefahr sehe ich die Seilschaften des alten Regimes. Aber diese Gefahr ist nicht so groß. Im Moment versuchen diese alten Seilschaften die altehrwürdige "Wafd"-Partei zu benutzen, um einen Keil zwischen den neuen Parteien zu treiben. Doch der Narzissmus und die Unfähigkeit liberaler Führungspersönlichkeiten zur Machtteilung in unserem Lager stellt wohl das größere Risiko dar.
Und wie sähe das zweite Entwicklungsszenario für Ägypten aus?
Gad: Ich halte eine zweite Revolution für durchaus realistisch. Denn die Muslimbrüder haben anstatt eines entschlossenen Reformprojekts bis jetzt nur sehr wenig angestoßen. Ihre Wirtschaftspolitik beschränkt sich auf die Aufnahme von Krediten.
An den katastrophalen Lebensbedingungen der Ägypter hat sich seit der Wahl Mursis zum Präsidenten nichts geändert. Die Unzufriedenheit in weiten Teilen der ägyptischen Bevölkerung ist groß und entsprechend ihre Bereitschaft, in den kommenden Monaten zu revoltieren. Viele warten nur auf einen Anlass.
Aber Mursi und die Muslimbrüder haben sich mehrfach als pragmatisch erwiesen...
Gad: Ja, das stimmt. Die Muslimbrüder sind immer dann pragmatisch, wenn es ihren eigenen Interessen dient. Ihr erklärtes Ziel, Ägypten in einen Muslimbruderstaat zu verwandeln, bleibt bestehen. Vierzig Jahre lang hat die Muslimbruderschaft gesagt: Unser erstes und wichtiges Ziel ist die Bekämpfung des zionistischen Feindes. Und was hat Mursi in seiner ersten Rede erklärt? Natürlich respektieren wir das Camp-David-Abkommen mit Israel. Und während einer Partei-Versammlung versicherte er: Selbstverständlich werden wir alle Terroristen auf der Sinai-Halbinsel bekämpfen – notfalls auch mit israelischer Hilfe.
Das Tragische an der jetzigen Lage in Ägypten bleibt jedoch die Tatsache, dass die islamistischen Parteien über keinen Plan und kein kompetentes Personal verfügen, um die gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes ernsthaft anzugehen.
Interview: Ute Schaeffer und Loay Mudhoon
© Qantara.de 2012
Übersetzung aus dem Arabischen von Loay Mudhoon
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de