Tunesiens demokratischer Aufbruch in Gefahr

Die bekannte tunesische Menschenrechtaktivistin Sihem Bensedrine beschreibt im Gespräch mit Moncef Slimi den schwierigen demokratischen Wandel im Mutterland der Arabellion.

Von Moncef Slimi

Nach der Einigung über die neue Verfassung und der Aufstellung einer Expertenregierung sind in Tunesien neue politische Spannungen hinsichtlich des Wahlgesetzes aufgetreten. Könnten diese Ihrer Meinung nach eine Verzögerung der Wahlen zur Folge haben?

Sihem Bensedrine: Als sich die politischen Gegner auf eine Expertenregierung einigen konnten, atmeten die Tunesier nach monatelangem Tauziehen auf. Leider spüre ich heute, dass gewisse Seiten Einfluss auf die Expertenregierung ausüben wollen. Die Versuche des Quartetts, dieser Regierung eine Art Vormundschaft aufzuerlegen, scheinen mir nicht geheuer. ("Das Quartett für den nationalen Dialog" besteht aus dem tunesischen Gewerkschaftsverband (UGTT), dem tunesischen Arbeitgeberverband (UTICA), der tunesischen Menschenrechtsliga (LTDH) und der Anwaltskammer/Anm. der Red.).

Wir müssen dieser Regierung zunächst Gelegenheit zum Arbeiten geben, um dann die Ergebnisse beurteilen zu können. Wir sollten ihr keine bestimmten politischen Richtlinien diktieren. Sonst beginnen die politischen Parteien gegenseitige Vorwürfe zu erheben, wer die Regierung zu behindern oder zu beeinflussen versucht. Reicht der Regierung denn nicht schon der Druck seitens der verschiedenen divergierenden Parteien? Muss dazu noch der Druck des Vermittlers für den Nationalen Dialog kommen, wenn dieser versucht, sich als Vormund zu behaupten? Die Situation ist momentan doch sehr verworren.

Inwiefern wird gegenwärtig auf die Regierung Druck ausgeübt?

Bensedrine: Das liegt auf der Hand. Manche drohen der Regierung mit Streiks, falls einige Ernennungen nicht rückgängig gemacht werden. Eigentlich würde man erwarten, dass dieser Regierung, die durch einen nationalen Konsens zustande gekommen ist, eine Atempause vergönnt sei, damit sie in dieser kurzen Übergangszeit unter friedlichen Bedingungen arbeiten kann. Andere wiederum drohen damit, die Wahlvorbereitungen zu behindern, falls man ihren Forderungen nicht entspricht. Das ist falsch und wirft ein Schlaglicht auf den Egoismus der Parteien auf Kosten der Nation, deren Interesse damit in den Hintergrund rückt.

Tunesiens Präsident Moncef Marzouki (m.) während einer Veranstaltung des Nationalen Dialogs am 16. Mai 2013 in Tunis; Foto: FETHI BELAID/AFP/Getty Images
Plattform für eind emokratisches Tunesien: Der Fahrplan für den Nationalen Dialog sieht neben der Bildung eines Interimskabinetts vor, eine neue Verfassung anzunehmen, das Wahlrecht zu reformieren und den Weg zu Neuwahlen zu ebnen.

Könnten die Differenzen im Umgang mit Anhängern des alten Regimes, die in Tunesien im "Gesetz zum Schutz der Revolution" formuliert wurde, zur Behinderung der Übergangsjustiz führen – und damit des gesamten demokratischen Wandels?

Bensedrine: Die Streit um die Übergangsjustiz wurde zunächst leider auf Eis gelegt, obwohl dies eine der wichtigsten Forderungen der Revolution darstellt. Leider hat die Troika-Regierung (die islamistische "Ennahda" sowie die beiden säkularen Parteien "Ettakatol" und der "Kongress für die Republik"/ Anm. der Red.) die Pläne für die Übergangsjustiz vernachlässigt.

Ich denke, dass die Verschiebung dieser Frage allen Tunesiern teuer zu stehen kommt. Die sozialen Konflikte haben zugenommen und die Reaktionen darauf nehmen manchmal gewalttätige Formen an. Um diese Spannungen abzubauen und ein entspanntes Klima zu schaffen, bedarf es öffentlicher Aufklärung und Rechenschaft, aber nicht hinter den Kulissen.Was wir brauchen, ist eine wirkliche nationale Versöhnung mittels juristischer Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Aufschiebung dieses Prozesses hat die Entwicklung der politischen Situation in Tunesien negativ beeinflusst.

Glücklicherweise hat die Verfassungsgebende Versammlung bereits das Gesetz für eine funktionstüchtige Übergangsjustiz verabschiedet: das "Gremium für Wahrheit und Würde".

Leider wird die Bildung dieser Wahrheitskommission noch von großen politischen Spannungen überschattet. Auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die an der Arbeit der Kommission beteiligt waren, gibt es Bedenken, dass es anstatt der vom Gesetz vorgesehenen Kriterien von Integrität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Kompetenz, in Wirklichkeit nur um politisches Kalkül und Quotenverteilung geht.

Wir können nur hoffen, dass am Ende doch noch Kriterien wie Unabhängigkeit und Integrität die Oberhand gewinnen werden, damit diese Kommission nicht ihre politische Wirkung verfehlt, bevor sie mit ihrer Mission überhaupt begonnen hat.

Der Vorsitzende der islamistischen "Ennahda"-Partei, Rachid al-Ghannouchi, Foto: DW
Tunesiens Expertenregierung als Auswweg aus der politischen Konfrontation: Die Amtsübernahme der unabhängigen Expertenregierung war zwischen den regierenden Islamisten der "Ennahda"-Partei unter Rached al-Ghannouchi und der Opposition vereinbart worden, um das Land aus der politischen Krise zu führen.

Manche Beobachter schreiben die Rückkehr der alten Seilschaften des Ben-Ali-Regimes durch den sogenannten "tiefen Staat" oder durch andere Interessensgruppen den Zugeständnissen der "Ennahda" zu, als sie noch an der Regierung beteiligt war? Sehen Sie das ähnlich?

Bensedrine: Ich mache die Troika und nicht allein "Ennahda" hierfür verantwortlich, die Übergangsjustiz vernachlässigt zu haben. Es mag sein, dass sie sich davon erhofften, ihre Macht zu festigen. Denn nach ihrer Wahl vom 23. Oktober 2011 sahen sie sich nicht in der Lage, das Land führen zu können, weil die Überbleibsel des alten Regimes immer noch großen Einfluss auf die Verwaltung hatten.Ich meine, dass ihre Rechnung nicht aufgegangen ist. Dafür hat die Zivilbevölkerung einen hohen Preis zahlen müssen. Ich hoffe daher, dass sie aus dieser Erfahrung gelernt haben, denn auch in Zukunft werden sie Einfluss auf die Verfassungsgebende Versammlung haben, und damit auf die Politik des Landes.

Politische Beobachter gehen davon aus, dass eine Allianz zwischen der islamistischen "Ennahda" und der "Nidaa Tunis" unter Führung des ehemaligen Premierministers Beji Caid El Sebsi entstehen könnte. Wie würde ein solches Bündnis auf die Forderungen der Revolution, auf die neue Übergangsjustiz reagieren?

Bensedrine: Leider beherrschen diese beiden großen Pole die politische Landschaft Tunesiens. Ein solches Bündnis wäre der demokratischen Entwicklung Tunesiens sicher abträglich. Die Logik einer solchen politischen Polarisierung führt entweder zu vorübergehenden Bündnissen oder zur Herrschaft von einer der zwei Parteien – und letztlich wohl zur Monopolisierung der Macht. Daher müssen diese Parteien vor der Gefahr solcher Parteienbündnisse gewarnt werden. Denn diese Entwicklung würde das Mehrparteiensystem insgesamt in Frage stellen, das wiederum als demokratisches Grundprinzip verankert ist.

Und was stellt Ihrer Meinung nach die größere Herausforderung für den demokratischen Übergangsprozess in Tunesien dar – die Konsolidierung der Wirtschaft oder die Verbesserung der Sicherheitslage im Land?

Bensedrine: In einem instabilen Staat ist auch die demokratische Ordnung gefährdet. Gewalt ist der Feind der Demokratie. Im Schatten der Gewalt können weder freie Wahlen durchgeführt, noch demokratische Institutionen im Lande aufgebaut werden.

Traurig ist, dass auch die Frage der Sicherheit Grund für neue Spannungen zwischen den politischen Parteien bietet. Dadurch kommen sie ihrem eigentlichen politischen Auftrag nicht mehr nach. Derzeit feilschen ausnahmslos alle Parteien um Fragen der Sicherheit im Land und geben ihren politischen Interessen Vorrang vor dem Gemeinwohl. Ich hoffe allerdings, dass wir dieses Problem noch überwinden können.

Obwohl ich vielen Parteien die Schuld an der Sicherheitsfrage zuschreibe, werfe ich doch vor allem den alten Schergen des Ben-Ali-Sicherheitsapparats vor, nach wie vor ihre Hand im Spiel zu haben, um das Land weiter zu destabilisieren.

Interview: Moncef Slimi

© Qantara.de 2014

Übersetzt aus dem Arabischen von Isis Hakim

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Sihem Bensedrine gehörte Anfang der 1980er Jahre zu den führenden Persönlichkeiten der tunesischen Frauenbewegung. Von 1985 bis 1994 war sie Vorstandsmitglied der "Tunesischen Liga für Menschenrechte". Ende der 1990er Jahre gründete sie gemeinsam mit anderen Menschenrechtlern den "Nationalen Rat für die Freiheit" in Tunesien. Als Galionsfigur des Widerstands gegen die Diktatur Ben Alis war sie vielfältigen Repressionen ausgesetzt. 2001 wurde sie nach Publikationen über Korruption und Folter inhaftiert. 2002 erhielt sie den Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit. Nach der Jasminrevolution Anfang 2011 verließ sie ihr Exil und kehrte nach Tunesien zurück, um dort beim Aufbau eines demokratischen Staates mitzuwirken. Im Herbst 2011 erhielt sie den Ibn Rushd Preis für freies Denken, der für Verdienste um die Demokratie und Meinungsfreiheit in der islamischen Welt vergeben wird.