Zerfällt der Jemen?
Im August haben Giants-Milizen des von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten Südübergangsrats nach drei Tagen schwerer Gefechte die Kontrolle über Ataq, Hauptstadt der südjemenitischen Provinz Schabwa, übernommen. Zuvor war die Stadt in den Händen von Kräften, die der Islah-Partei nahestehen. Diese wird von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) seit langem als ein Zweig der Muslimbruderschaft betrachtet, als islamistische Organisation eingestuft und in der gesamten Region bekämpft.
Das Brisante an dem Zwischenfall: Beide Seiten sind Mitglieder im Präsidialrat (Presidential Leadership Council, PLC), der im April von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten eingesetzt wurde, um die Anti-Huthi-Kräfte zu einen und genau solche Kämpfe der jeweiligen Fraktionen untereinander zu verhindern.
Der Konflikt in Schabwa ist ein Lackmustest für den Präsidialrat. Der international anerkannte, aber äußerst unpopuläre Exilpräsident Abed Rabbo Mansur Hadi, der maßgeblich von Saudi-Arabien abhängig ist, hatte seine sämtlichen Befugnisse im April an den neuen Präsidialrat abgegeben. Beobachter halten die widersprüchliche Agenda der einzelnen Fraktionen im Präsidialrat für einen zentralen Hemmschuh für dessen Handlungsfähigkeit.
Jemens letzter Sargnagel?
Für Alexandra Stark, Senior Researcher beim Think Tank New America, sind die jüngsten Auseinandersetzungen ein Symptom für die tief verwurzelten und bereits lange andauernden Probleme der Anti-Huthi-Koalition: Die einzelnen Fraktionen sind tief zerstritten und "nur nominell durch das gemeinsame Ziel geeint, die Huthis zu besiegen, darüber hinaus aber verfolgen sie unterschiedliche Interessen und Ziele“, so Stark gegenüber Qantara.de.
Viele Beobachter stellen sich daher die Frage, ob die jüngsten Auseinandersetzungen in der Provinz Schabwa zum letzten Sargnagel für den Jemen als geeintem Staat werden. Die Einnahme der Stadt Ataq durch die VAE-nahen Giants-Brigaden wurde von den Südjemeniten gefeiert. Insbesondere als die Sieger symbolisch die Flagge des vereinten Jemen einholten und durch die Fahne des ehemals unabhängigen Südjemen ersetzten.
Nach Auffassung von Alexandra Stark läutet der jüngste Konflikt nicht unbedingt das Ende der Bemühungen des Präsidialrats ein. Der Konflikt stelle aber durchaus eine ernste Herausforderung dar: "Selbst wenn es dem Präsidialrat und den gegnerischen Huthis gelingt, den Waffenstillstand aufrechterhalten und eine Art Friedensabkommen auszuarbeiten, werden damit nicht die anderen, altbekannten Probleme des Jemen gelöst. Diese reichen zurück bis in den Bürgerkrieg von 1994 und davor, also in die Zeit noch vor der Vereinigung der beiden jemenitischen Staaten.“
Widerstrebende Interessen im Präsidialrat
Für Asher Orkaby, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Davis Center der Harvard University und Dozent an der Harvard Extension School, sind die Brüche nach dem Abkommen von Riad 2019 nicht zu kitten. Letztlich sei das Abkommens nicht imstande gewesen, das schwache Bündnis zwischen der im saudischen Riad ansässigen international anerkannten jemenitischen Regierung und dem von den VAE unterstützten Südübergangsrat (Southern Transitional Council) zu festigen. Der Südübergangsrat strebt in erster Linie nach der Unabhängigkeit für den Süden. "Auch wenn beide Gruppierungen im Präsidialrat vertreten sind, halten die Spannungen an, da dieser im Süden des Jemen weder legitimiert noch stark präsent ist“, sagte er gegenüber Qantara.de.
Die Vorfälle in Schabwa ließen "auf neue Allianzen im Präsidialrat schließen“, meint Susanne Dahlgren, Wissenschaftlerin am Middle East Institute in Washington, USA, und Dozentin an der Universität Tampere in Finnland. Die "Anti-Islah-Allianz“ im Präsidialrat habe seit den Kämpfen um Schabwa offenbar die Unterstützung des Vorsitzenden, Raschad al-Alimi, erhalten. Zudem beobachtet Dahlgren das Aufkommen eines neuen Narrativs, das "die Versuche der Islah, die Kontrolle im Süden zu erlangen, mit den Vorstößen der Huthi im Norden verbindet.“
Einige Beobachter befürchten, die Zwischenfälle von Schabwa könnten die Einheit des jemenitischen Staates gefährden. Abdulghani al-Iryani, Senior Researcher am Sana'a Center for Strategic Studies, hält diese Einschätzung allerdings nicht für unbedingt zutreffend.
Er meint, die Ereignisse von Schabwa würden "die Möglichkeit zur Wiederherstellung der jemenitischen Einheit in einem Zentralstaat, der von den Eliten im Norden dominiert wird, so wie es mehrere jemenitische Gruppierungen wie u.a. die Islah-Partei anstreben, gefährden". Und weiter: "Fehleinschätzungen regionaler Akteure, insbesondere der Vereinigten Arabischen Emirate, die erwägen, einen eigenständigen Staat Südjemen auszurufen, während sie Saudi-Arabien gemeinsam mit den vom Iran unterstützten Huthis die Kontrolle über den Norden überlassen, werden die Instabilität im Jemen fortschreiben.“
Fragiler Präsidialrat
Dahlgren weist darauf hin, dass die jüngsten Machtkämpfe tiefe Risse in der neuen Führung des Landes erkennen lassen. Man könne indes nicht erwarten, dass es innerhalb weniger Monate gelinge, verschiedene Milizen zusammenzuführen. So habe der Präsidialrat erst vor wenigen Tagen ein Gremium eingesetzt, das die geplante Vereinigung der Milizen überwachen soll. Die Jemeniten aber hegen wohl keine großen Erwartungen in diesen Prozess, aber man werde anhand der künftigen politischen Ereignisse sehen, wie er 0 letztendlich ablaufen wird.
Ende August hatten Milizen des Südübergangsrats eine militärische Operation "Eastern Arrows“ zur Bekämpfung von Dschihadisten in der südlichen Provinz Abyan begonnen. Für Dahlgren ist diese jüngste militärische Operation "ein Hinweis auf die gemeinsame Front des Präsidialratsvorsitzenden al-Alimi und dem Südübergangsrat bei der Bekämpfung dschihadistischer Elemente. Der Südübergangsrat hatte wiederholt erklärt, diese Elemente würden von der Islah-Partei und ihren Milizen taktisch dazu benutzt, um die Kontrolle im Süden zu erlangen.“
Ob solche Maßnahmen die Krise abwenden können, bleibt abzuwarten, zumal die jemenitische Interimsregierung in Aden an Popularität verliert und unter erodierender Legitimation leidet.
Asher Orkaby bringt es auf den Punkt: "Eine Regierung, die einen Schlag gegen die eigene Bevölkerung zulässt, empfiehlt sich nicht unbedingt ihren Bürgern.“ Darüber hinaus hat die offensichtliche Führungsschwäche des Präsidialrats dazu beigetragen, dem Südübergangsrat und der Huthi-Partei Ansar Allah einen Imagezuwachs zu bescheren. Andererseits herrscht in beiden Fraktionen eine beunruhigende interne Dynamik vor.
Laut Al-Iryani weisen beide gravierende Defizite in der praktischen Regierungsarbeit auf. "Sobald sie erkennen, dass sie die Vision von einem eigenen Staat nicht umsetzen können, werden sie ihre Kräfte darauf konzentrieren, ein Abkommen zur Teilung der Macht herbeizuführen, das einen vereinten, paritätischen und dezentralisierten jemenitischen Staat wiederherstellt“, so Al-Iryani.
Davon abgesehen, wie die politischen Entwicklungen im Land in Zukunft aussehen, wird jede jemenitische Regierung vor der Frage stehen, wie sie den Krieg beenden und ihre Bürger ausreichend versorgen kann. Dazu hat Dahlgren den Vereinten Nationen kürzlich einen Friedensplan vorgelegt. Demnach sollte "der Wiederaufbau in verschiedenen Zonen beginnen, die derzeit von unterschiedlichen Parteien kontrolliert werden“. Mit anderen Worten: "Erst sollten die sozialen Probleme angegangen werden. Eine politische Lösung wird dann folgen.“
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