"Der Machtkampf mit Gülen schwächt Erdogan"
Die Gülen-Bewegung wird in der Öffentlichkeit mal als NGO, mal als politisches Netzwerk, als Religionsgemeinde oder auch als islamische Sekte bezeichnet. Wie würden Sie die von dem Prediger Fethullah Gülen gegründete Bewegung charakterisieren?
Günter Seufert: Ich würde sagen, dass sie eine Religionsgemeinde ist, die stark auf Gülen selbst konzentriert ist. Dass sie aber gleichzeitig ihre religiöse Bildung als zivilgesellschaftliche Mission versteht und darüber hinaus noch einen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen hat. Das ist ein Phänomen, das wir so in unseren Gesellschaften Europas nicht kennen. Entstanden ist die Bewegung als Folge der Predigten Fethullah Gülens, der es verstanden hat, die moralischen und sittlichen Anforderungen, die der Islam an den Gläubigen stellt, neu zu interpretieren. Nämlich so, dass es nicht nur darum geht, die Tradition einfach weiterzuleben, sondern auch über die Erkundung der Natur, Gott in Naturgesetzen und Physik zu erkennen und wiederzufinden. Und das hat den Weg dazu geöffnet, dass die konservativen Schichten, die früher gegenüber säkularer Bildung sehr kritisch waren, weil sie dadurch eine Erschütterung des religiösen Weltbilds befürchteten, ihre Kinder schließlich in die säkularen Schulen geschickt haben.
Wie äußert sich heute der Machtkampf zwischen der Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan und der Gülen-Bewegung?
Seufert: Seilschaften dieser Bewegung machen heute eine eigene Politik - in Bürokratie, Polizei, aber auch Justiz, Militär sowie Innenministerium. Diese Politik zielt in erster Linie darauf ab, die Regierung zu schwächen, ihr Warnschüsse zu geben, weil sich die Gülen-Bewegung von ihr bedroht fühlt. Früher hatten die Regierung und die Gülen-Bewegung noch ganz eng zusammengearbeitet, um die säkular ausgerichtete Elite des Landes zu schwächen und insbesondere den Einfluss des Militärs auf die Politik zu begrenzen.
Für die heutigen Differenzen zwischen der Gülen-Bewegung und der Regierung von Erdogans konservativer AKP-Partei gibt es mehrere Gründe: Die Bewegung hatte - stärker als die Regierung ihr das vielleicht zugestehen wollte - ihren Einfluss im Staatsapparat ausgebaut. Gleichzeitig besteht die Gülen-Bewegung nicht nur aus Schulen und Kadern der Bürokratie, sondern auch aus Unternehmern, die stärker von den Früchten des Staates profitieren wollten - auch durch Staatsaufträge, Zuweisungen von Bauland oder Maßnahmen zur Außenwirtschaftsförderung. Es gibt also sehr viel an Reichtum zu verteilen, und über diesen Reichtum haben sich die beiden Kräfte auch ein Stück weit zerstritten.
Sowohl die Gülen-Bewegung als auch Erdogans AKP-Partei sind islamisch-konservativ geprägt. Welche ideologischen Unterschiede gibt es trotzdem zwischen den beiden?
Seufert: Auf ideologischer Ebene gibt es kaum Unterschiede. Beide haben eine starke muslimische Identität, beide sind sozial-moralisch konservativ eingestellt, betonen sehr traditionelle Geschlechterrollen und eine starke türkisch-nationale Identität. Zudem verherrlichen sie die osmanische Vergangenheit der Türkei. Es gibt aber wichtige politische Unterschiede, vor allem in Bezug auf die Kurdenfrage oder das Verhältnis zu Israel und den USA.
Offenbart hat sich der Konflikt zwischen der Gülen-Bewegung und der Regierung 2010 in der unterschiedlichen Haltung zur Mavi-Marmara-Affäre: Eine Flotille hatte versucht, die israelische Blockade des Gazastreifens aufzubrechen; das Führungsschiff war türkisch und die Hilfsorganisation, die die Flotilla angeführt hatte, stand der Regierungspartei AKP nahe. Die gesamte Türkei hatte damals das Verhalten Israels heftig kritisiert, während Fethullah Gülen die Aktion der Schiffsgruppe verurteilte und sagte, man hätte im Vorfeld das Einverständnis Israels für den Hilfstransport einholen sollen. Die Gülen-Bewegung teilt die Israel-kritische und zum Teil auch USA-kritische Position der türkischen Regierung nicht.
Wie weit reicht die Macht der Gülen-Bewegung - sowohl innerhalb der Türkei als auch auf internationaler Ebene?
Seufert: Auf internationaler Ebene ist die Gülen-Bewegung eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die Diskussionen anstoßen und Positionen beziehen kann. Besonders in den USA hat die Bewegung einen relativ guten Ruf, weil sie dort als eine reformistische Strömung im Islam verstanden wird, die für säkulare Bildung, die Kooperationen mit Kirchen und den interreligiösen Dialog eintritt. Aber sie hat im Ausland keine politische Macht.
Anders sieht es in der Türkei aus, wo die Bewegung über ihr Bildungsnetzwerk eine neue konservative Bildungselite hervorgebracht hat. Zudem gibt es gerade Korruptionsermittlungen gegen die Söhne von drei führenden Ministern der Erdogan-Regierung. Viele Leute führen diese Ermittlungen auf Aktivitäten der Gülen-Bewegung zurück - und sehen sie als Teil des Machtkampfes zwischen ihr und der Regierung.
Wird dieser Machtkampf Erdogan und seine AKP-Partei schwächen - gerade in Hinblick auf die Präsidentschafts- und Kommunalwahlen in der Türkei, die 2014 bevorstehen?
Seufert: Ja, der Machtkampf schwächt Erdogan und seine Partei schon jetzt. Gerade durch die Aufdeckung dieser Korruptionsfälle aus dem familiären Umfeld von Ministern hat das Ansehen der AKP-Regierung bei den Wählern gelitten. Erdogan hat seine AKP gerne als die Partei dargestellt, die niemals korrupt sein würde - dieses Image hat wesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen. Wenn die AKP jetzt als genauso korrupt wie ihre Vorgänger empfunden wird, ist das ein entscheidender Schlag gegen Erdogan, der sicher dazu führt, dass seine Partei weniger Stimmen bekommen wird. Durch die harten Reaktionen auf die Demonstrationen im Sommer hat Erdogan die liberalen Türken gegen sich aufgebracht - und der Korruptionsskandal belastet jetzt auch das Verhältnis der muslimisch-konservativen Bevölkerung zur Regierung.
Interview: Alexandra Scherle
© Deutsche Welle 2013
Der Türkei-Experte Dr. Günter Seufert gehört zur Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Vor kurzem hat er eine Studie über die Gülen-Bewegung veröffentlicht. Er war akademischer Leiter des Orient-Instituts in Istanbul und hat mehrere Jahre als freier Journalist aus der Türkei berichtet.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de