Verbunden durch Schicksal, Geschichte und Migration

Al-Sharaa und Erdogan im Profil vor der türkischen und der syrischen Flagge.
Ahmad al-Sharaa und Recep Tayyip Erdogan bei einer Pressekonferenz in Ankara, 4.02.2025. (Foto: Picture Alliance | DIA Images/ABACA)

Die engen Verbindungen der Türkei zum neuen syrischen Regime haben im eigenen Land heftige Debatten neu entfacht. Die Türkei sieht in Syrien ein Spiegelbild ihrer eigenen tiefen Spaltungen — Islamisten gegen Säkulare, Aleviten gegen Sunniten, Türken gegen Kurden.

Von Ayşe Karabat

Im Oktober 2009, zwei Jahre vor dem Beginn des Krieges in Syrien, trat der damalige türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu vor türkische und syrische Minister und skizzierte seine Vision einer Einheit. „Von jetzt an werden die Türkei und Syrien als Partner in Schicksal, Geschichte und Zukunft denselben Weg weitergehen“, sagte er. 

„Wir werden Hand in Hand auf diesem Weg schreiten. Wir werden zusammenarbeiten, um unsere Region wieder zu einem aufstrebenden Zentrum der Zivilisation zu machen, um unsere Region in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu verwandeln und Gaziantep mit Aleppo, Istanbul und Ankara mit Damaskus wieder zu vereinen.“

Anschließend nahmen die Minister beider Nationen an zwei gemeinsamen Kabinettssitzungen teil, eine im syrischen Aleppo und eine direkt hinter der Grenze in Gaziantep. Die unter dem Osmanischen Reich zu Provinz Aleppo gehörende Stadt Gaziantep hatte sich bis 2009 zu einem der wichtigsten Industriezentren der Türkei entwickelt. Als in Syrien der Krieg ausbrach, wurde sie zur Stadt mit der zweitgrößten Zahl syrischer Flüchtlinge.

Der Krieg schien jegliche Hoffnung auf eine enge Beziehung zwischen den beiden Ländern zu zerstören, da die Türkei offen gegen Baschar al-Assad agierte. Heute, nach dem Sturz des Diktators, erscheint Davutoğlus Vision wieder greifbar. 

Die Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital zwischen den beiden Nationen ist so stabil wie eh und je. Doch die Wiederaufnahme der Beziehungen hat innerhalb der türkischen Gesellschaft heftige Debatten ausgelöst.

Fünf Tage nach dem Sturz Assads besuchte der türkische Geheimdienstchef İbrahim Kalın die berühmte Umayyaden-Moschee in Damaskus. Nach dem Gebet setzte sich Kalın auf den Beifahrersitz eines Autos, am Steuer saß Syriens neuer Führer Ahmed al-Scharaa, früher bekannt als Abu Mohammed al-Dscholani.

Manche sahen in dem Treffen zwischen al-Scharaa und Kalın sowie in der Tatsache, dass die Türkei als erstes Land einen staatlichen Vertreter in das Post-Assad-Syrien schicken konnte, einen Sieg. Andere reagierten empört und betonten, dass die Umbenennung al-Scharaas seine Vergangenheit als militanter Islamist nicht ungeschehen macht. Der UN-Sicherheitsrat stuft Hai‘at Tahrir al-Scham (HTS), die von ihm angeführte Gruppe, nach wie vor als Terrororganisation ein.

Im Januar 2025 versprach Gazianteps Bürgermeisterin Fatma Şahin in einer scheinbar harmlosen Geste des guten Willens, ihre Gemeinde werde neue, dunkelrote, Teppiche aus Wolle für die Umayyaden-Moschee bereitstellen. Ausgewählt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan persönlich. Kritiker:innen waren entrüstet und argumentierten, die Geste sei unangemessen in einer Zeit, in der so viele türkische Bürger:innen mit einer chronischen Lebenshaltungskostenkrise zu kämpfen haben.

Für die säkulare Türkei stellt eine Annäherung an das Syrien von al-Scharaa eine Bedrohung ihrer Grundprinzipien dar. Es könnte radikale Elemente ermutigen und das Land in eine gefährliche Verwicklung mit islamistischen Bewegungen ziehen.

Trotz der Befürchtungen der Opposition verpflichteten sich die beiden Staatsoberhäupter während des Besuchs von al-Scharaa in Ankara am 4. Februar, ihre Beziehungen zu stärken, und erklärten in einer gemeinsamen Pressekonferenz den Beginn einer dauerhaften Freundschaft und Zusammenarbeit.

Das außenpolitische Tabu der Türkei

Die politische Landschaft der Türkei ist polarisiert, nicht nur bezüglich der Kosten für Teppiche oder des Namens des neuen Staatsoberhauptes, sondern in fast allen Fragen, die die Beziehungen zu Syrien prägen.

Diese Polarisierung rührt an die zentrale Frage nach dem Selbstbild der Türkei als Nation. Als die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 an die Macht kam, wurde dies als die Geburt einer „neuen Türkei“ bezeichnet.

Der Wandel brachte auch eine Abkehr von einer der wichtigsten außenpolitischen Grundsätze der „alten Türkei“ mit sich. Diese hatte sich stets aus arabischen Angelegenheiten herausgehalten. Die AKP sieht in der Türkei heute eine große Regionalmacht — als „großer Bruder“ für die Nachbarstaaten und als Anführer in der islamischen Welt. 

Ihre Gegner:innen haben jedoch eine andere Vision: eine westlich orientierte, säkulare Türkei, distanziert von regionalen Konflikten. Die Republikanische Volkspartei (CHP), die wichtigste Oppositionspartei der Türkei, wirbt schon immer für den Rückzug aus Konflikten in der Levante.

Laut Professor Emre Erdoğan von der Bilgi-Universität erstickt die heutige politische Kultur in der Türkei jede offene Debatte über die türkische Außenpolitik im Kern. Eine Verletzung dieses Tabus gilt schnell als Problem der nationalen Sicherheit.

„Die Regierung spricht ständig von den Interessen der Türkei, ohne sie klar zu definieren, und fordert nationale Einheit. Wenn man die Existenz einer äußeren Bedrohung oder deren Quelle in Frage stellt, wird man sofort als Verräter abgestempelt“, erklärte er gegenüber Qantara. Seiner Meinung nach liegt dies an fehlenden unabhängigen Think Tahnks, einer angepassten Presse und solche Wissenschaftler:innen zurück, die Debatten eher auf die nationale Einheit als auf objektive Analysen ausrichten.

Eine zentrale Schwäche der Opposition sei, so Prof. Erdoğan, dass sie keine alternative Außenpolitik vorschlage. Obwohl die CHP Mitgliedspartei der Sozialistischen Internationale ist, hat sie für die Beziehung zu Syrien nie einen internationalistischen oder arbeiterorientierten Ansatz entwickelt.

Für viele oppositionelle Stimmen ist jeder Schritt der türkischen Regierung automatisch falsch. Diese Kritik lässt Prof. Erdoğan zufolge die Komplexität von Außenpolitik außer Acht und reduziert sie auf die einfache Gleichung „Regierung ist gleich schlecht“. 

Syrien durch die türkische Brille

Wenn die türkische Gesellschaft über Syrien redet, projiziert sie dabei ihre eigenen Bruchlinien. „Wir versuchen Syrien auf der Grundlage unserer eigenen internen Spaltungen zu verstehen“, bestätigt Prof. Erdoğan, und zwar entlang islamistisch-säkularer, alevitisch-sunnitischer und kurdisch-türkischer Linien.

Säkulare und religiöse Gruppierungen gerieten wegen eines kürzlich viral gegangenen Videos aneinander, in dem Syriens neuer Führer eine junge Frau aufforderte, ihr Haar zu bedecken, bevor sie ein Foto mit ihm machte. Oppositionsmedien sahen darin ein Warnzeichen dafür, dass Syrien auf eine Taliban-ähnliche Zukunft zusteuert, während regierungsnahe Medien al-Scharaa verteidigten und die Aussage der Frau zitierten, in der sie ihm für die „Befreiung des Landes“ dankte.

Gleichzeitig brachte der Sieg der syrischen sunnitischen Opposition über den Alawiten Assad die eigenen sunnitisch-alevitischen Spannungen in der Türkei an die Oberfläche. Obwohl die türkischen Alevit:innen im Allgemeinen wenig Verbindung mit den syrischen Alawit:innen haben, kam es in den sozialen Medien zu Anschuldigungen, dass sich alevitische und alawitische politische Akteure in der Türkei und in Syrien gegen die Revolution verschworen hätten, auf Anweisung des „Obersten Führers“ des Iran, Ali Khamenei. Türkisch-alevitische Organisationen verurteilten eine solche Rhetorik als Aufwiegelung.

Dann ist da noch die kurdische Bevölkerung. Seit 2016 unterhält die Türkei eine Militärpräsenz in Nordsyrien und beruft sich dabei auf Grenzsicherung und Terrorismusbekämpfung. Ihre Einsätze richteten sich insbesondere gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von Ankara, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird, sowie gegen deren syrischen Ableger, die Volksverteidigungseinheiten (YPG).

Da die Außenpolitik in der Türkei häufig im Rahmen von Sicherheit und Terrorismusbekämpfung gedacht wird, dominiert dieses Narrativ die Diskussionen über Syrien. Ende Januar eskalierten die Spannungen in der Türkei, als die Co-Bürgermeisterin von Siirt, Sofya Alağaş von der prokurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM), wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. 

Nach dem Urteilsspruch ersetzte die Regierung die gewählte Bürgermeisterin durch einen ernannten Vertrauensmann. Die Co-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları, betonte, dass der laufende politische Prozess vertrauensbildende Maßnahmen erfordere, wozu auch die Freilassung von inhaftierten kurdischen Politiker:innen gehöre.

Es überrascht nicht, dass Sicherheit während des Besuchs von al-Scharaa in Ankara in diesem Monat ein zentrales Gesprächsthema war. Al-Scharaa erklärte, dass die beiden Staatsoberhäupter verschiedene Bedrohungen besprochen hätten, während Erdoğan betonte, dass die Türkei bereit sei, Syrien in seinem Kampf gegen „terroristische Organisationen“ uneingeschränkt zu unterstützen.

Wiederaufbau und Rückkehr der Flüchtlinge

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Vorteile einer erneuerten Beziehung zu Syrien löste der Sturz Assads in der Türkei Optimismus aus. Auf einer Pressekonferenz im Dezember hob Energieminister Alparslan Bayraktar die Öl- und Gasreserven Syriens hervor und deutete an, dass die Türkei vom Zugang zu diesen Ressourcen profitieren könnte. Viele glauben, dass die Türkei eine führende Rolle beim Wiederaufbau Syriens spielen könnte, was die Aktienkurse türkischer Bauunternehmen in die Höhe treibt. 

Andere halten diese Bestrebungen für unrealistisch und sagen voraus, dass westliche und regionale Mächte den Einfluss der Türkei blockieren oder einzuschränken versuchen werden. Oppositionsmedien sahen sich in einem Treffen zwischen Italien, Deutschland, Frankreich und den USA am 9. Januar in Rom zu Zukunft Syriens bestätigt. Die Türkei war zu diesem Treffen nicht eingeladen. 

Im stark polarisierten Klima der Türkei sticht die Frage der syrischen Flüchtlinge als einer der wenigen Bereiche hervor, in denen Konsens besteht. Viele türkische Bürger:innen sind der Meinung, dass die langfristige Anwesenheit von Millionen von Syrer:innen die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes belastet hat.

Bei ihrem Besuch in Ankara im Dezember verkündete die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, eine zusätzliche Finanzierung in Höhe von 1 Milliarde Euro, zusätzlich zu den 10 Milliarden Euro, die die EU der Türkei seit 2011 für die Unterstützung syrischer Flüchtlinge bereitgestellt hat.

Dennoch hielten viele diese Mittel für unzureichend. Der Parteivorsitzende der CHP Özgür Özel argumentierte, dass das Land insgesamt 200 Milliarden Euro verloren habe, aufgrund der Belastung durch die Aufnahme syrischer Flüchtlinge.

Türkische Medien haben die Zahl der Syre:innen, die in ihr Heimatland zurückkehren, genau verfolgt. Sowohl die Regierung als auch die Opposition wollen, dass sie das Land verlassen – die Regierung hat sich für eine „ehrenhafte“ Rückkehr eingesetzt, während die Opposition sie so schnell wie möglich loswerden will. 

Das ist möglicherweise nicht so einfach, wie es scheint. Offiziellen Angaben zufolge haben sich fast 2,9 Millionen Syrer:innen entweder in die türkische Gesellschaft integriert oder wollen voraussichtlich erst einmal abwarten, unsicher, ob sie in ein instabiles Syrien zurückkehren sollen. 

Viele werden nach Syrien zurückkehren und könnten in der Zukunft als wichtige Verbindung zwischen den beiden Ländern dienen. Aber eine große Mehrheit hat sich in der Türkei ein neues Leben aufgebaut. Viele ihrer Kinder sind in der Türkei geboren und aufgewachsen, besuchen türkische Schulen und sprechen möglicherweise nicht einmal Arabisch.

Während des Besuchs von al-Scharaa betonte Präsident Erdoğan seine Überzeugung, dass sich die freiwillige Rückkehr der Syrer:innen beschleunigen werde, wenn das Land stabiler sei. Er unterstrich, dass jede Nation, insbesondere andere arabische und islamische Länder, ihren Teil dazu beitragen sollte, den Wiederaufbau Syriens zu unterstützen.

Unabhängig davon, was die Zukunft bringt, ist vieles von Davutoğlus Vision bereits Wirklichkeit geworden: Die Türkei und Syrien sind durch Schicksal, Geschichte und Migration miteinander verbunden. Die Frage, ob sie wieder zum Zentrum einer blühenden Zivilisation werden können, wie Davutoğlu es sich vorgestellt hat, bleibt offen. 

Dieser Artikel ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Annalena Heber.

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