Kein Frieden mit Fundamentalisten
Frau Joya, Sie sind in Afghanistan geboren und lebten 16 Jahre lang im Exil. Seit Ihrer Kindheit kennen Sie das Land nur im Kriegszustand, dennoch haben Sie sich entschlossen zurückzukommen. Warum?
Malalai Joya: Seit meiner Geburt leidet dieses Land unter permanenter Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Ich habe die Leiden meiner Landsmänner und Frauen sehr genau kennen gelernt und es als gebildete und politisch bewusste Frau irgendwann als meine Pflicht angesehen, zu helfen, speziell den unterdrückten Frauen.
Worunter leidet die Bevölkerung heute am meisten?
Joya: Die gesamte Situation ist eine Katastrophe. Die Menschen sind so verunsichert, dass sie ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken, weil sie fürchten, dass sie gekidnappt oder, speziell die Mädchen, vergewaltigt werden. Die Anzahl der Vergewaltigungen steigt derzeit immens, ebenso wie die der Entführungen und Morde. Häusliche Gewalt veranlasst immer noch viele Frauen dazu, sich lieber umzubringen, als dem Elend standzuhalten.
Seit dem Einsatz der USA und ihrer Alliierten in Afghanistan nach dem 11. September gibt es dennoch mehr Frauenrechte im Land als unter den Taliban. Sie selbst konnten anlässlich der Wahlen kandidieren und wurden Abgeordnete im Jahr 2005...
Joya: Ich bin nicht durch den Krieg Parlamentarierin geworden. Und ich sehe es auch nicht als Vorteil für meine Mission, dass die Amerikaner gekommen sind. Die USA haben Afghanistan im Namen des Krieges gegen den Terror besetzt. Aber tatsächlich haben sie mit der Nordallianz Terroristen an die Macht befördert, die viel schlimmer sind als die Taliban. Meine Präsenz im Parlament diente nur als Fassade, um Staub in die Augen der Welt zu streuen. Jeder sollte denken, dass Frieden und Demokratie in diesem Land existieren.
Wie stehen Sie dann zum erweiterten Truppeneinsatz durch US-Präsident Barak Obama?
Joya: Die seit acht Jahren andauernde Besatzung hat der Bevölkerung vor allem eines deutlich gemacht: dass die Vereinigten Staaten die Taliban nicht loswerden. Die Taliban haben kaum einen entscheidenden Rückschlag erfahren. Im Gegenteil, sie werden immer stärker, da sie auch noch von Pakistan unterstützt werden.
Die Staaten wollen einfach nur ihre politische Macht demonstrieren, aus regionalstrategischen und wirtschaftlichen Gründen Präsenz zeigen. Bisher sind mehr als 8.000 Zivilisten von ausländischen Truppen getötet worden. Dieses immer größere Aufgebot an Militär bedeutet immer mehr Krieg, Morde und Tragödien.
Was wäre die Alternative zum Einsatz ausländischer Streitkräfte?
Joya: Es gibt Alternativen, die viel weniger blutrünstig wären. Der erste Schritt ist es, die ehemaligen Kriegsherren zu entwaffnen und politisch zu entmachten. Ihre Privatmilizen sollten komplett beseitigt werden, und sie sollten bestraft werden für all ihre Kriegsverbrechen aus der Vergangenheit.
Eine weltliche, demokratische und unabhängige Regierung sollte etabliert werden. Solange fundamentalistische Gruppierungen als politische und militärische Kräfte die Macht im Parlament haben, und diese auch noch vom Westen unterstützt werden, wird es keinen Frieden geben.
Wirtschaftliche Gerechtigkeit ist ein weiterer Punkt: Afghanistan wurde überflutet von Milliarden Dollar, aber die Bevölkerung leidet nach wie vor unter Hunger. Lokale Industrien sollten aufgebaut werden, Jobs geschaffen und Alternativen zur Opium-Produktion gefunden werden.
Das liegt aber in den Händen des Volkes. Demokratie und Freiheit sind kein Blumenstrauß, den man einer Nation einfach so überreichen kann. Es gibt Werte, die nur durch die Anstrengungen des Volkes selbst zurück gewonnen werden können.
Wie sähe ein Abzug ausländischer Truppen Ihrer Meinung nach konkret aus? Würden sich nicht Warlords und Taliban wieder unbeobachtet fühlen und erneut die Bevölkerung terrorisieren?
Joya: Es ist schwierig zu sagen, was im Detail geschehen würde. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich die Situation verbessern würde. Derzeit kontrollieren die Besatzungsmächte den gesamten Himmel, werfen Streubomben und Urangeschosse.
Den Boden kontrollieren dagegen fundamentalistische Kriegsherren und Taliban. Die Bevölkerung hätte im Falle eines Abzugs hauptsächlich mit zwei großen inländischen Kriegsgegnern zu tun – der Nordallianz und den Taliban.
Beide Gruppen haben kaum Chancen, die Macht wieder an sich zu reißen. Das Volk hasst die Taliban bis aufs Blut. Was die Nordallianz angeht, so ist sie meiner Meinung nach schon so isoliert, dass niemand sich ihnen noch anschließen würde. Unser Volk wurde so brutal von ihnen misshandelt, dass es keine Mitläufer mehr gäbe.
Ich glaube weniger an die Einschätzungen mancher Leute, dass ein Aufstand der Nordallianz stattfinden würde oder die Taliban sich wieder neu gruppieren und zu alter Stärke zurückfinden könnten.
Was kritisieren Sie am meisten an der Politik von Präsident Hamid Karzai?
Joya: Hamid Karzais Hände sind in Blut gewaschen. Er hat berüchtigte Kriminelle unterstützt – Leute, die vor der militärischen Invasion der Amerikaner die Bevölkerung unterdrückt haben, und nun im Parlament sitzen. Er brachte sie in hohe Ämter. Jüngst macht er Qaseem Fahim and Karim Khalili zu seinen Vizepräsidenten. Die beiden waren in unzählige Verbrechen und Morde im Zeitraum von 1992 bis 1996 verwickelt.
Karzai ist in den Augen des Volkes ein Verräter, weil er sie, nachdem er ihre Stimmen bekam, enttäuscht hat. Er weint medienwirksam Krokodilstränen und hält große Reden, aber seine leeren Worte dienen nur dazu, die Welt zu täuschen. Er ist nichts weiter als eine Marionette der USA, deren Regeln er befolgt.
Weshalb wurden Sie zwei Jahre nach Ihrem Amtseintritt als Parlamentarierin suspendiert?
Joya: Männer stellen im Parlament bis heute die Mehrheit. Nichtsdestotrotz wurde meine Entlassung auch von vielen fundamentalistischen Frauen unterstützt. Dennoch kontrollieren die ehemaligen Kriegsherren im Parlament jede Form von Macht. Sie kontrollieren die Medien genau wie jeden einzelnen Journalisten.
Wenn etwa jemand über irgendeines ihrer Verbrechen berichtet, wird er entweder bedroht oder gleich getötet. Es herrschen so viele Ungesetzlichkeiten. Ein Beispiel ist der Fall der 14 Jahre alten Bashira: Sie wurde von Haji Payinda’s Sohn vergewaltigt. Haji Payinda ist ein ehemaliger Kriegsverbrecher aus der Nordprovinz und Mitglied des Parlaments. Er bestach die Polizei, die seinen Sohn daraufhin frei ließ.
Wurden Sie direkt von Regierungsmitgliedern bedroht?
Joya: Ja, sehr oft. Abdul Rab Sayyaf, ein fundamentalistischer Kriegsherr im Parlament, hat mich bedroht. Seine Befehlshaber ebenfalls. Sie haben mich unzählige Male beschimpft und im Parlament angegriffen. Aber es gab auch Frauen, die mir mit dem Tod drohten. Noorzia Atmar sagte einmal: "Ich werde dir Dinge antun, die selbst ein Mann nicht wagen würde zu tun." Es gab Zeiten, da waren einige Frauen eine stärkere Bedrohung für mich als die Männer im Parlament.
Sie beschreiben sich selbst als eher schüchterne Persönlichkeit, die sich bis spät in die Pubertät ihren Respekt erarbeiten musste. Wie wurden Sie zur selbstbewussten Freiheitskämpferin?
Joya: Ich bin wirklich erst in meiner Jugend selbstbewusster geworden, seitdem ich im Exil Kinder, Jugendliche und ältere Menschen unterrichtet habe. Da merkte ich schnell, dass ich mit wenigen Mitteln Gutes erreichen kann. Ich vertraue darauf, dass Werte wie Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit einmal siegen werden. Das Leiden und die Schreie meines Volkes haben mir den Mut gegeben, aufzustehen und meine Stimme zu erheben.
Gibt es für Ihr Engagement für Frieden und Einhaltung der Menschenrechte in Afghanistan ein großes Vorbild?
Joya: Meine größte Inspiration war eine Frauenrechtlerin Namens Meena, die ich als Kind einmal traf, aber es gibt wirklich sehr viele Friedensaktivisten, zu denen ich aufblicke. Ich habe auch viel von meinem Vater gelernt. Er gehörte zu den wirklichen "Mujaheddin", das heißt den Freiheitskämpfern, die sich für die Unabhängigkeit ihres Landes eingesetzt haben.
Später kam jedoch ein Haufen Kriegsherren und Bandenchefs hinzu, die sich selbst als Mujaheddin bezeichneten, jedoch viele Verbrechen im Namen des Islam begangen haben. Das brachte den Namen der Mujaheddin grundsätzlich in Verruf.
Wie gehen Sie mit den permanenten Bedrohungen und den Gefahren eines Anschlags um?
Joya: Diese Bedrohungen sind Teil meines Lebens geworden. Sie schüchtern mich aber nicht ein, ich sage ja nur die Wahrheit. Tatsächlich schlafe ich nachts aber nur wenig und wechsle meine Unterkunft manchmal täglich, manchmal alle zwei Nächte. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt.
Das Interview führte Andin Tegen.
© Qantara.de 2009
Malalai Joya wurde 2005 als jüngste Abgeordnete ins afghanische Parlament gewählt. Als Flüchtling lebte sie zuvor im Iran und in Pakistan. Nachdem sie nach Afghanistan zurückkehrte, gründete sie eine Klinik und ein Waisenhaus. 2007 wurde Joya ihres Amtes als Abgeordnete enthoben und führt ihren Kampf außerhalb des Parlaments weiter. Für ihr Engagement erhielt sie im März 2009 in Rotterdam den internationalen Antidiskriminierungspreis. Im Piper-Verlag ist jetzt ihr Buch "Ich erhebe meine Stimme. Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan" erschienen.
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